Die Beliebtheit des Frauenfußballs nimmt zu - und damit auch dessen mediale Sichtbarkeit. In den Fokus rücken - wie bei den Männern auch - vermeintliche Fehler in der Spielleitung. In unserem Exklusiv-Interview nimmt Christine Baitinger zur jüngsten Kritik an den Schiedsrichterinnen Stellung. Die Sportliche Leiterin der DFB-Schiedsrichterinnen sieht die Lösung nicht darin, an der Pfeife Frauen durch Männer zu ersetzen und fordert die Vereine zu konstruktiver Mitarbeit und fairem Umgang auf.

Ein Interview

Seit Januar 2023 steht Christine Baitinger den Schiedsrichterinnen im DFB als Sportliche Leiterin vor. Die 49-Jährige hat selbst auf Fifa-Ebene gepfiffen und war zuvor als Bundesliga-Spielerin auch in der höchsten deutschen Spielklasse aktiv. In der ersten kompletten Bundesliga-Saison ihrer Amtszeit äußern Klub-Verantwortliche so deutlich wie nie ihren Unmut. Sie stoßen sich an der Qualität der Leistungen der Schiedsrichterinnen. Der Ruf nach männlichen Referees in der Frauen-Bundesliga wird laut. Baitinger hält das für keine Lösung des Problems, für das sie eine Ursache nennt. Und sie wünscht sich eine Rückkehr zu einem fairen Umgang miteinander.

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Frau Baitinger, wie gravierend ist denn das Qualitätsproblem der Schiedsrichterinnen in der Frauen-Bundesliga?

Christine Baitinger: Aus meiner Sicht haben wir kein so drastisches Qualitätsproblem, wie es aktuell dargestellt wird. Wir haben Schiedsrichterinnen, die auf gutem Niveau bis sehr gutem Niveau ihre Spiele leiten. Wir haben intensiv die vergangenen Jahre mit ihnen zusammengearbeitet, haben sie entsprechend aus- und fortgebildet. Der große Unterschied, den wir aktuell haben, ist, dass die Fehler, die zweifellos passieren und die wir auch nicht schönreden wollen, sichtbar sind. Durch die umfassenderen TV-Übertragungen in der Google Pixel Frauen-Bundesliga erhält jeder Fehler mehr Aufmerksamkeit.

"Jeder Fehler tut uns und den Schiedsrichterinnen weh."

Christine Baitinger

Noch vor wenigen Jahren hatten wir eine Kamera an der Mittellinie gehabt, das war's. Da hat man im TV-Bild nicht gesehen, ob der Strafstoß jetzt zweifelsfrei richtig oder falsch war. Jetzt ist alles gläserner. Jeder Fehler tut uns und den Schiedsrichterinnen weh. Und natürlich wollen wir uns immer weiter verbessern.

Christine Baitinger fordert respektvollen Umgang miteinander

Wenn die Schiedsrichterinnen nicht schlechter geworden sind, waren sie vielleicht auf die neue Sichtbarkeit nicht so gut vorbereitet?

Zunächst ist festzuhalten: Fehler passieren. Sie passieren Spielerinnen und Spielern, Trainerinnen und Trainern und sie passieren Schiris. Und das wird auch weiterhin so sein. Der Männer-Fußball ist hochgradig professionalisiert, doch auch dort treten noch Fehler auf. Klar ist: Es gilt, die Fehler zu minimieren. Daran arbeiten wir hart. Und wir stellen uns auch der Kritik. Die jüngste Kritik war nicht unberechtigt, die Art und Weise aber war nicht in Ordnung. Ein respektvoller Umgang sollte immer gegeben sein. Mit erhöhter Sichtbarkeit und damit auch mehr Aufgeregtheit umzugehen, ist ein Lern- und Erfahrungsprozess. In diesem Prozess befinden wir uns. Fehler gehören zum Fußball dazu.

Wie können sich die Leistungen der Schiedsrichterinnen verbessern?

Man muss zunächst sehen, welche Voraussetzungen die Schiedsrichterinnen antreffen. Alle arbeiten, sie machen die Schiedsrichterei als Nebenjob und nehmen sich teilweise Urlaub, damit sie die Spiele leiten können. Die Schiedsrichterinnen müssen sich körperlich und inhaltlich vorbereiten, Spiele auch nachbereiten. Das ist eine hohe Belastung und erfordert viel Leidenschaft. Bedeutet für uns: Wir müssen unseren Schiedsrichterinnen professionellere Rahmenbedingungen schaffen. Sie brauchen perspektivisch einen besseren finanziellen Ausgleich, damit sie sich zeitlichen Freiraum schaffen können. Fehler auf dem Platz kann man aber nie zu 100 Prozent ausschließen. Das kann auch kein männlicher Kollege.

Haben Sie sich denn wegen der Kritik, die Sie als unsachlich empfinden, mit Osman Cankaya vom 1. FC Nürnberg mal direkt in Verbindung gesetzt?

Ja, klar.

Die Vereine können sich nicht aus der Verantwortung stehlen

Haben Sie die Unstimmigkeiten ausgeräumt, oder hat er Verbesserungsvorschläge gehabt?

Wir stehen im Austausch mit allen Vereinen der Google Pixel Frauen-Bundesliga. Professionalisierung ist ein großes Thema im Frauenfußball. Das gilt nicht nur für die Spielerinnen und die Infrastruktur, sondern auch für die Schiedsrichterinnen. Ich sehe die Vereine hier in der weiteren Entwicklung mit in der Verantwortung. Das ist nicht nur die Aufgabe der Verbände, das geht nur gemeinsam.

"Die Art der Kritik ging mir zu weit. Das war bisher nicht der Umgangston, den wir in der Frauen-Bundesliga gepflegt haben."

Christine Baitinger

Haben Sie sich gewünscht, dass die Kritik demnächst vielleicht ein bisschen leiser oder intern ausfällt? Oder ist Ihnen die Sichtbarkeit des Frauenfußballs in Anführungsstrichen auch in dem Fall recht?

Grundsätzlich geht es nicht darum, dass keine Kritik geäußert werden darf, es geht darum, wie kritisiert wird. Die Art der Kritik ging mir zu weit. Das war bisher nicht der Umgangston, den wir in der Frauen-Bundesliga gepflegt haben. Emotionen sind okay, aber grundsätzliche Betrachtungen sollten sachlich erfolgen. Sonst wird der Druck auf die Schiedsrichterinnen nur unnötig größer. Wir müssen wieder miteinander reden und nicht übereinander.

Wie gehen denn die kritisierten Schiedsrichterinnen selbst damit um?

Die Schiedsrichterinnen gehen sehr professionell damit um. Aber natürlich ist der Druck gestiegen. Insgesamt habe ich jedoch das Gefühl, dass unsere Schiedsrichterinnen die neue Situation auch als Herausforderung angenommen haben, um zu zeigen, was sie können.

In Deutschland pfeifen 2.300 Schiedsrichterinnen

Sie haben die Professionalität angesprochen. Die verhindert auch bei den Männern nicht, dass es Fehlentscheidungen gibt. Es pfeifen immer noch Menschen. Aber liegt es an dem von Ihnen beschriebenen Aufwand, dass in Deutschland im Vergleich mit dem Anteil an männlichen Kollegen bis jetzt nur ein Bruchteil Schiedsrichterinnen aktiv sind?

4,3 Prozent der Schiris in Deutschland sind weiblich. Der Anteil muss definitiv steigen. Aber: Die Zahlen haben sich durch das Jahr der Schiris zuletzt positiv entwickelt, auch bei den Frauen. Aktuell haben wir 2.300 Schiedsrichterinnen. Das ist nicht so schlecht. Wir müssen grundsätzlich unterscheiden. Wir haben Schiedsrichterinnen an der Basis, die ihr Hobby wirklich als Hobby betreiben, die Jugendspiele und Frauenspiele im Landesverband pfeifen. Und dann haben wir die ambitionierten Frauen, die das Ganze professioneller betreiben und es bis ganz nach oben schaffen wollen. Klar ist: Schaffen wir eine breitere Basis, verbessern wir auch die Voraussetzungen für die Spitze. Neben Projekten wie dem Jahr der Schiris soll dabei auch die Strategie FF27 des DFB zur Förderung von Frauen im Fußball helfen.

Aber die Schiedsrichterinnen können ja nur an der Aufgabe wachsen, wenn man ihnen die Aufgabe auch lässt. Ihr Kollege Lutz Michael Fröhlich hat sich zu dem Vorschlag geäußert, dass die Männer doch in der Frauen-Bundesliga zum Einsatz kommen sollten. Aber dann nehmen sie ja den Frauen die Plätze weg, und das garantiert auch keine fehlerlosen Spiele.

Lutz Fröhlich hat gesagt, dass wir uns austauschen und schauen müssen, wo wir gemeinsam für die Schiedsrichterinnen und für die Google Pixel Frauen-Bundesliga den besten Weg finden. Der DFB hat die Förderung von Frauen im Sport als eines der wichtigsten Ziel ausgegeben, und das wird auch so bleiben. Die Frauen-Bundesliga wird in erster Linie für die Schiedsrichterinnen da sein. Dort können wir Spitzen-Schiedsrichterinnen weiter entwickeln - und dort müssen wir die Rahmenbedingungen weiter verbessern. Was nicht heißt, dass wir nicht offen für männliche Schiedsrichter sind. Es ist jetzt nicht so, dass der Weg für junge Männer aus dem Amateurbereich in die Frauen-Bundesliga theoretisch offen ist. Bis dato war es aber so, dass sich die Männer eher für den Weg in den männlichen Profibereich entschieden haben. Inwieweit wir uns künftig besser verzahnen können, müssen wir im Austausch mit dem Team um Lutz Fröhlich klären. Wir werden aber unseren grundsätzlichen Weg der Frauenförderung nicht völlig über den Haufen werfen.

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Wann rechnen Sie mit Ergebnissen aus diesem Austausch?

Im Laufe der aktuellen Saison wird sich zunächst nichts ändern. Wir müssen unterscheiden zwischen mittel- und langfristigen Zielen. Wo wollen wir hin? Und wie gibt es eventuell kurzfristigere Lösungen, also mit Blick auf die nächste Saison? Das ist aber alles noch Spekulation. Wir stehen mit den Klubs und zuständigen Gremien in Austausch.

Welche Rolle würde denn der Videobeweis spielen? Wünschen sich die Schiedsrichterinnen diese technische Unterstützung?

Die Infrastruktur spielt hier eine entscheidende Rolle. Mit den aktuellen Kamerapositionen in der Frauen-Bundesliga können wir maximal von einer Light-Version des VAR sprechen. Das ist mit der Bundesliga und 2. Bundesliga der Männer nicht vergleichbar. Weniger Kameras bedeuten weniger Perspektiven, sodass weniger Situationen zweifelsfrei auszulösen sind. Aber auch mit einer Light-Version könnte der eine oder andere Fehler korrigiert werden. Insofern würden wir es aus dem Schiri-Bereich unterstützen - immer in dem Wissen, dass trotzdem weiterhin Fehler passieren werden. Wir müssen im Austausch bleiben, ob die Vereine, ob die Liga den VAR überhaupt möchten. Das ist auch eine finanzielle Frage.

Osman Cankaya hat nicht nur von einem qualitativen Problem gesprochen, sondern auch von einem strukturellen Problem. Was hat er damit gemeint?

Auch hier müssen wir weiter in den Austausch gehen. Wir haben einen ausreichenden Pool an Schiedsrichterinnen für die Google-Pixel Frauen-Bundesliga. Gleiches gilt für die 2. Bundesliga. Wie wir uns qualitativ verbessern können, müssen wir jetzt gemeinsam mit den Vereinen weiter erarbeiten. Einige Punkte, wie die Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Schiedsrichterinnen, hatte ich ja bereits angeführt.

Drei Schiedsrichterinnen genießen einen Sonderstatus

Fünf Schiedsrichterinnen genießen derzeit einen Sonderstatus, werden also auch in der 3. Liga der Männer eingesetzt. Was steckt dahinter, und ist das eine feste Zahl oder wird da auch durchgewechselt?

Die Schiedsrichterinnen, die sich für den Herrenbereich qualifizieren, leiten auch Spiele in der 3. Liga. Die Schiedsrichterinnen Fabienne Michel, Riem Hussein und Franziska Wildfeuer gehören also sowohl dem Kader der 3. Liga als auch der Frauen-Bundesliga an. Sie leiten in beiden Ligen ihre Spiele. Katrin Rafalski und Vanessa Kaminski sind Teil des VAR-Teams bei den Männern. Unser Ziel ist natürlich, die Schiedsrichterinnen möglichst weit zu bringen, auch mal Richtung 2. Bundesliga oder gar Bundesliga bei den Männern.

Sie sagen, es wird von Saison zu Saison geschaut, wie die Besetzung dort ausschaut.

Da wird nicht unterschieden, ob Frau oder Mann. Es gibt 22 Schiris in der 3. Liga und es sollen die 22 sein, die für die Liga entsprechende Leistungen gezeigt haben.

Sie selbst sind eine hoch erfahrene Schiedsrichterin gewesen. Sie haben zuvor auch selbst gespielt. Würden Sie lieber heute nochmal pfeifen, oder war es Ihnen recht, in der etwas ruhigeren und medial weniger beachteten Zeit gepfiffen zu haben?

Die Frage kann ich pauschal nicht beantworten. Auch damals war es schön. Auch damals waren es wichtige Spiele für die Vereine und Highlights für uns, in der Frauen-Bundesliga zu pfeifen oder internationale Turniere zu begleiten. Ich konnte vielleicht entspannter pfeifen, weil ich den medialen Druck damals nicht hatte. Wir sind Teil eines tollen Projekts. Der Frauenfußball entwickelt sich immens, und es macht mir Spaß, heute in veränderter Rolle ein Teil davon zu sein.

Über die Gesprächspartnerin:

  • Christine Baitinger (49), geborene Beck, spielte zu Beginn der 1990er-Jahre aktiv für den VfL Sindelfingen in der Bundesliga der Frauen. Ihr Mann und ihr Vater brachten sie auf die Idee, ins Schiedsrichterinnen-Fach zu wechseln. Baitinger stieg 1999 ein und schaffte es binnen fünf Jahren auf die Fifa-Liste. 2007 nahm sie an der WM, 2008 an den Olympischen Spielen teil. 2006, 2008 und 2012 wurde die Mutter eines Sohnes zu Deutschlands "Schiedsrichterin des Jahres gewählt". Sie machte ihr Hobby zum Beruf und gelangte über den DFB-Schiedsrichterausschuss am 1. Januar 2023 auf den Posten der Sportlichen Leiterin für die im DFB organisierten Schiedsrichterinnen.

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