Union Berlin hat überraschend die Spitze der 2. Liga erklommen, noch vor den Topfavoriten aus Stuttgart oder Hannover. Die Leistungsexplosion der Berliner ist eng verknüpft mit einem, der fast schon als gescheitert galt.

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Und plötzlich stehen sie ganz oben: Der fulminante Marsch von Union Berlin durch die 2. Liga hat seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Durch das 1:0 gegen den 1. FC Nürnberg erklimmt das Team von der Alten Försterei erstmals seit dreieinhalb Jahren wieder die Spitze.

Für die meisten Beobachter kommt die Leistungsexplosion der Eisernen überraschend, einige wenige Experten hatten Union aber bereits vor der Saison als Geheimtipp auf dem Zettel - und wurden durch eine sehr solide Vorrunde in ihrer Meinung bestärkt.

Was sich aber seit dem Jahreswechsel abspielt, erscheint selbst für kühnste Optimisten wie ein Traum. Union hat in diesem Kalenderjahr sieben von acht Partien gewonnen und ist als einzige Mannschaft der zweiten Liga in diesem Zeitraum ungeschlagen. Zuletzt sechs Siege am Stück katapultierten die Eisernen aus ihrer Lauerstellung direkt bis ganz nach oben.

Sinnvolle Transfers

Rasend schnell hat Trainer Jens Keller aus einer Mittelklassemannschaft ein Spitzenteam geformt. Keller galt nach seinen eher verkorksten Gastspielen in Stuttgart und auf Schalke in der Szene schon fast als verbrannt - und trotzdem sahen die Verantwortlichen im Sommer im 46-Jährigen den richtigen Trainer für den Umbruch.

Mit Akribie, einem guten Händchen bei Spielertransfers und einem nicht alltäglichen Spielsystem überrascht Union und grüßt jetzt neun Spieltage vor dem Ende von ganz oben.

Auf "nur" rund 18 Millionen Euro wird der Marktwert des Kaders geschätzt, damit bewegt sich die Mannschaft in der Größenordnung von Klubs wie 1860 München, Braunschweig oder dem Karlsruher SC. Und ist Lichtjahre entfernt vom Geldadel aus Stuttgart (42 Mio.) oder Hannover (32 Mio.).

Im Sommer verließ mit Bobby Wood der beste Angreifer den Klub, dafür zauberte Baumeister Keller plötzlich Collin Quaner aus dem Hut. Der spielte in der Saison davor kaum eine Rolle, schoss nur ein mickriges Törchen - in der abgelaufenen Hinrunde aber wurde Quaner plötzlich zum Torjäger. Er traf trotz einiger Verletzungssorgen in 14 Spielen sieben Mal selbst und assistierte zudem noch fünf Mal mit einer Vorlage.

Der Wechsel des Angreifers im Winter nach England war ein Schlag für Union und die sachte schlummernden Aufstiegspläne - dank des vorausschauenden Scoutings und der Überredungskunst der sportlichen Leitung konnte im Gegenzug aber Sebastian Polter wieder nach Köpenick geholt werden.

Unorthodoxes Spielsystem

Polter ist in seinen Anlagen ein nahezu baugleicher Spielertyp, kam für 1,5 Millionen Euro von den Queens Park Rangers und ersetzte Quaner im Prinzip ohne jeden Qualitätsverlust. Der alles überstrahlende Faktor ist jedoch das etwas eigenartige Spielsystem. Union spielt in einem 4-3-3, das nur von sehr wenigen Mannschaften im deutschen Profi-Fußball praktiziert wird.

Grundelement ist ein hohes Pressing und Gegenpressing, einhergehend mit dem mittlerweile üblichen Umschaltspiel nach Ballgewinn und einer offen gelebten Direktheit. Kellers Mannschaft verfügt nicht über die technisch feinen Spielertypen, die aus dem "normalen" Spiel heraus viele Chancen kreieren können; es gibt wenig Positions- und Ballbesitzspiel. Aber die Abläufe in den wenigen entscheidenden Sequenzen einer Partie sitzen dafür umso perfekter.

Dazu verlässt sich die Mannschaft gerne auch mal auf ein sehr tiefes Abwehrpressing und verschanzt sich förmlich am und um den eigenen Sechzehner. Mit erst 24 Gegentoren nach 25 Spielen stellt Union die beste Defensive der gesamten Liga.

Im Spiel nach vorne hat sich Steven Skrzybski als eine andere große Entdeckung der Saison herauskristallisiert. Mit seiner enormen Geschwindigkeit ist er der Ankerpunkt fast aller Schnellangriffe und Vorlagengeber für entweder Polter oder den ebenfalls besonders treffsicheren Damir Kreilach.

Unions Lauf lehrt der Konkurrenz das Fürchten, allen voran den schwächelnden Stuttgartern und Hannover 96, das just an dem Tag, als die Berliner die Tabellenspitze erklommen, seinen Trainer gewechselt hat.

Wie verkraftet die Mannschaft Rückschläge?

Ganz entscheidend wird in den kommenden Wochen sein, wie die Mannschaft mit dem für sie völlig neuen Druck umgehen wird. "Jetzt sind wir oben, jetzt wird die Mannschaft wieder entspannter", sagt Keller. Oder besser gesagt: Er hofft es.

Keller ist der einzige im Klub, der sich mit extremen Drucksituationen auskennt, die Jahre in Stuttgart und vor allen Dingen auf Schalke haben ihn gestählt. "Ich bin gern im Aufstiegsrennen dabei und schaue von oben nach unten. Wer das als Druck empfindet - ich nicht. Ich empfinde das als etwas Angenehmes ..."

Trotzdem ist noch nicht der Beweis erbracht, dass Union auch mit der Rolle des Gejagten umgehen kann. Und wie die vom Erfolg verwöhnte Mannschaft mit einem oder mehreren Rückschlägen umgehen wird, bleibt auch abzuwarten.

Dazu muss Union in den letzten neun Spielen unter anderem noch gegen die drei Konkurrenten aus Stuttgart, Hannover und Braunschweig ran - und alle Spiele finden auswärts statt.

Das ist aber noch weit weg. "Wir wollen nicht quatschen, sondern arbeiten", sagt Keller. Das ist wie Berlin-Köpenick in einem Satz.

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