Die Vorherrschaft der CDU wackelt auch in Hessen. In den Startlöchern für das Amt des Ministerpräsidenten steht auch der Grüne Tarek Al-Wazir. Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel spricht über den Aufwind der Grünen und den Anteil, den Al-Wazir daran hat. Er kennt Al-Wazirs Erfolgsgeheimnis - aber auch seine Achillesferse.

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Am Sonntag wählen die Hessen ein neues Parlament. Die Umfragen prognostizieren herbe Verluste für CDU und SPD, die Grünen könnten einen Rekordwert von 20 Prozent erreichen. Für die bisherige schwarz-grüne Regierung dürfte es knapp werden: Ihre Mehrheit ist alles andere als gesichert.

Der aktuelle "HessenTrend" sieht die CDU bei 26 Prozent und die SPD bei 21 Prozent. AfD, FDP und Linke dürften bei 12,9 beziehungsweise 8 Prozent landen.

Bei einem solchen Wahlergebnis wäre Schwarz-Grün abgewählt - es ergäben sich Regierungsvarianten von Jamaika über Ampel bis hin zu einem Rot-Rot-Grünen Bündnis. Der künftige Ministerpräsident könnte dann nicht mehr Volker Bouffier heißen, sondern Tarek Al-Wazir (Grüne).

Aufwind aus dem Bund

Seine Partei befindet sich aktuell im Höhenflug. "Die Grünen in Hessen profitieren vom bundesweiten Aufwind", sagt Prof. Dr. Wolfgang Seibel von der Universität Konstanz im Gespräch mit unserer Redaktion. Dieser wiederum sei der Schwäche von Union und SPD geschuldet und der Konjunktur grüner Themen.

Und Seibel sieht noch andere Gründe: "Die Grünen sind die einzige Partei, die sich nicht in demonstrativer Weise mit sich selbst beschäftigt", so der Experte mit dem Schwerpunkt Innenpolitik. Von den etablierten Volksparteien habe man hingegen in den letzten Monaten Schauspiele geboten bekommen.

Seibel resümiert: "Die Grünen haben ein überzeugendes Themen-Tableau und betonen solide Grundwerte." Image und Personal seien frisch und weniger von Kapitalismuskritik geprägt. Das mache sie auch für bürgerliche Wähler attraktiv: "Die Grünen präsentieren sich als respektable und seriöse Partei."

Harmonischer Regierungsstil

Die Grünen in Hessen profitieren zwar vom bundesweiten Aufwind, einziger Grund für den prognostizierten Wahlerfolg ist das aber nicht. Seibel erklärt: "Zu den guten Umfrage-Ergebnissen hat ganz maßgeblich der Regierungsstil der vergangenen Schwarz-Grünen Regierung beigetragen."

Die ursprünglich eher unwahrscheinliche Koalition aus der recht konservativen hessischen CDU und den Grünen habe geräuschlos funktioniert.

"Die wechselseitigen Anpassungsleistungen, die in einer Koalition vonnöten sind, waren reibungslos und harmonisch", so Experte Seibel. Kritische Themen, etwa im Bereich der Fahrverbote, hätten die Grünen geschickt so umschifft, dass sie der Partei nicht negativ angelastet worden seien.

Grüne Hoffnung: Tarek Al-Wazir

Nicht zuletzt verantwortlich dafür: Der bisherige stellvertretende Ministerpräsident Tarek Al-Wazir. Wer aber ist der grüne Spitzenkandidat mit Aussicht auf das Amt des Ministerpräsidenten?

Fest steht: Al-Wazir hat viel Erfahrung. Von 1995 bis 2017 saß der aus Offenbach stammende Politiker mit jemenitischen Wurzeln im hessischen Landtag, von 2000 bis 2014 als Fraktionsvorsitzender seiner Partei.

Wahlerfolge hatten die Grünen Al-Wazir schon in der Vergangenheit zu verdanken: Anfang der 2000er holte er seine Partei in Hessen aus einem Tief. Bei der Landtagswahl 1999 hatten die Grünen vier Prozentpunkte verloren, 2003 holten sie wieder 10,1 Prozent.

Im November 2014 wurde er sogar von der Fachzeitschrift "Politik und Kommunikation" als Politiker des Jahres ausgezeichnet, in einer Umfrage der "Forschungsgruppe Wahlen" stieg er zum beliebtesten Politiker Hessens auf.

Was macht ihn so beliebt? "Vor allem den bürgerlichen Wählern gefällt sein nüchterner, unprätentiöser Stil", weiß Politologe Seibel.

Erfahren und Bodenständig

Experte Seibel beobachtet: "Al-Wazir liefert politische Positionen, etwa beim Klimawandel, mit denen man sich gut identifizieren kann."

So forderte er beispielsweise weniger Nachtflüge am Frankfurter Flughafen. Gleichzeitig will er Start-ups fördern und Flüchtlinge schnellstmöglich in den Arbeitsmarkt integrieren.

"Die bürgerlichen Wähler möchten Politiker wählen, bei denen sie über die geteilten Werte hinaus den Eindruck haben, dass es sich um seriöse Menschen handelt, die sich nicht aufplustern", analysiert Experte Seibel.

Dabei könne Al-Wazir, der schon als Gymnasiast in die Grüne Jugend eintrat und einst deren Vorsitzender war, mit dem Motto punkten: "Ärmel hochkrempeln, in die Hände spucken, loslegen."

Seibel beschreibt Al-Wazirs Erfolgsgeheimnis wie folgt: "Obwohl er sein ganzes Leben lang Politik gemacht hat, ist er nicht abgehoben. Er ist mit allen Wassern gewaschen, aber trotzdem bodenständig geblieben." Das habe sich auch im Wahlkampf gezeigt: Dort habe er sich im Umgang mit den Menschen sehr zugänglich gezeigt.

Rot-Rot-Grün als Achillesverse

Seibel sieht auch einen "Kretschmann-Effekt": In Baden-Württemberg habe Winfried Kretschmann unter Beweis gestellt, dass ein Grüner als Ministerpräsident tauge.

Al-Wazir könnte nun der Zweite in Deutschland werden. Möglich wäre das nicht nur in einer Jamaika-Koalition unter grüner Führung, sondern auch in einem rot-rot-grünen Bündnis. Das hat Al-Wazir bislang jedenfalls nicht ausgeschlossen.

Seibel hält das für einen taktischen Fehler: "Dass Al-Wazir ein rot-rot-grünes Bündnis nicht ausgeschlossen hat, ist seine Achillesferse."

Die Möglichkeit, dass die Linkspartei mit in der Regierung ist, wenn man den Grünen seine Stimme gibt, dürfte in seinen Augen viele bürgerliche Wähler abschrecken. Der CDU, die nun verstärkt vor einem solchen Linksbündnis warnt, liefere er damit einen Angriffspunkt.

Bundesweite Tragweite

Ob Al-Wazir tatsächlich Ministerpräsident wird, hängt von den Zahlen am nächsten Sonntag ab. Noch sind viele Koalitionsvarianten denkbar. "Die bundespolitische Bedeutung ist in jedem Fall enorm", urteilt Seibel.

Je nach Wahlergebnis könnten unterschiedliche Szenarien losgetreten werden - von einer befeuerten Diskussion über den Verbleib der SPD in der GroKo bis hin zur Zukunft von Angela Merkel und Neuwahlen.

Seibel wünscht sich daher nur eins: "Das Signal an den Bund lautet hoffentlich: Macht endlich Politik und beendet die Selbstbeschäftigung des politischen Betriebs in Berlin."

Über den Experten: Wolfgang Seibel ist seit 1990 Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz und seit 2006 "Adjunct Professor of Public Administration" an der Hertie School of Governance, Berlin. Er studierte Politikwissenschaft, Deutsche Literatur und Linguistik.

Verwendete Quellen:

  • Hessenschau.de: Daten aus dem Hessentrend
  • FR.de: Al-Wazir als beliebtester Politiker
  • Fnp.de: Al-Wazir will weniger Nachtflüge
  • Wibank.de: Masterplan zur Start-Up-Förderung in Hessen
  • Faz.net: Flüchtlinge in Arbeitsmarkt integrieren
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