Das politische System Deutschlands und die Volksparteien befinden sich in einer Krise. Dafür erstarkt mit der AfD eine Partei, die den Volksentscheid auf Bundesebene fordert. Wie könnten direkt-demokratische Elemente das politische System Deutschlands beeinflussen? Wir haben mit dem Schweizer Experten für Direkte Demokratie, Claude Longchamp, darüber gesprochen.

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Herr Longchamp, inwiefern könnte Deutschland von mehr direkter Demokratie profitieren?

Claude Longchamp: Das deutsche politische System mit zwei großen Volksparteien hat sich überlebt. Inzwischen gibt es eine Tendenz zur Zersplitterung des Parteiensystems. Dadurch ist die Legitimation der Volksparteien in Frage gestellt worden.

Mit der direkten Demokratie gäbe es eine zusätzliche Möglichkeit für die Bürger, ihre Anliegen an die Politik weiterzugeben. Das würde die Parteiendemokratie weiter relativieren, aber die Demokratie stabilisiert.

Ein Hauptargument gegen die direkte Demokratie ist, dass Populisten an Stärke gewinnen könnten. Was sagen Sie dazu?

Das Argument ist nicht falsch, aber es ist unvollständig. Klar ist: Direkte Demokratie erweitert den Rahmen an Themen, über die gesprochen wird. Das eröffnet den Populisten Chancen.

Aber Volksabstimmungen sind ein hartes Geschäft. In Europa liegen die Populisten im Schnitt zwischen 10 und 15 Prozent, bei Volksabstimmungen muss man allerdings 50 Prozent der Stimmen für sich gewinnen.

Meistens verlieren Populisten deshalb bei solchen Entscheiden. Weil sie ja für sich behaupten, das Volk zu repräsentieren, entzaubern solche Niederlagen die Parteien auch ein Stück weit.

Wenn populistische Parteien also auch prinzipiell gestärkt werden, gewinnt das politische System an Glaubwürdigkeit zurück?

Auf jeden Fall! Die Identifizierung der Bevölkerung mit Behörden, auf die sie Einfluss ausüben können, ist deutlich höher als dort, wo die Politik als nicht beeinflussbar erscheint.

Ich halte das Aufkommen von populistischen Bewegungen ja gerade für eine Folge von zu wenig demokratischen Einflussmöglichkeiten.

Lassen sich demnach durch direkte Demokratie die Bürger zurückgewinnen?

Zumindest ließe sich der in Deutschland sehr polarisierende Dialog versachlichen. Momentan wird zu oft über die Machtfrage gesprochen. Heißt, es wird darüber geredet, von welcher Seite, Opposition und so weiter, eine Frage kommt.

Die Sachfrage, also ob die Forderung gut oder schlecht ist, was für und gegen sie spricht, wird hingegen zu wenig thematisiert. Volksabstimmungen bewirken hingegen, dass man vermehrt in Sachfragen entscheiden muss, ohne die Machtfrage zu stellen.

Funktioniert diese Trennung in der Schweiz besser?

Es gibt auch in der Schweiz emotionale Themen. Die lassen sich nur schwierig behandeln. Bei uns sind das Fragen zur Europäischen Union und zur Zuwanderung.

Aber es gibt zahllose andere Themen, die mithilfe von sachlichen Argumenten entschieden werden.

Macht- und Sachfrage zu trennen, heißt im Kern, sich mit den Inhalten und nicht der Partei selbst zu beschäftigten. Geht das bei einer Partei wie der AfD, die immer wieder mit Antisemitismus und Holocaust-Relativierungen kokettiert, oder muss man sich von dieser Radikalität nicht auch klar abgrenzen?

Probleme mit Antisemitismus gibt es auch ohne Volksrechte. Ob man sich dagegen wehrt oder nicht, ist kein spezifisches Problem von direkter Demokratie, sondern vielmehr eine zivilgesellschaftliche Frage.

Natürlich können Parteien in direkten Demokratien mit Positionen von rechts- oder linksaußen liebäugeln, um ein Thema auf die Agenda zu bringen. Wenn man allerdings nicht bloß Rabatz machen, sondern eine Abstimmung gewinnen will, müssen sie in der Regel alle Extreme abstreifen.

Macht die direkte Demokratie solche Parteien also weniger radikal?

Ja. Denn erstens wird eine Bewegung, die erfolgreich sein will, sich in ihren Forderungen mäßigen. Zweitens muss sich die Politik mit den Anliegen solcher Bewegungen auf der Sach-Ebene auseinandersetzen, wenn sie nicht will, dass diese die Überhand gewinnen.

Neun von zehn Volksentscheide in der Schweiz scheitern zwar, aber in 40 Prozent der gescheiterten Fälle gibt es ein Entgegenkommen seitens des Parlaments oder der Regierung.

Heißt: Es werden sinnvolle Punkte der jeweiligen Forderung aufgegriffen und in die ordentliche Gesetzgebung übernommen. Bei populistischen Themen führt das zu einem Radikalitätsverlust.

Die direkte Demokratie gibt es in Deutschland auf der Länderebene schon. Die dort per Volksentscheid getroffenen Beschlüsse sind aber oft nicht umsetzbar. Siehe Beispiel Berlin Tegel. Wo müsste man ansetzen, um das zu ändern?

Dafür müsste man natürlich ein institutionelles Design finden. Wie genau das aussehen soll, darauf möchte ich mich nicht festlegen. Da gibt es keine allgemeinen Regeln. Es ist eher eine Kunst, das zu entwickeln. In der Schweiz wurden die direktdemokratischen Institutionen auf Bundesebene über Jahrzehnte schrittweise eingeführt.

Als ersten Schritt könnte man in Deutschland Volksinitiativen ermöglichen. Damit können Bürger der Politik Anstöße geben und Themen zur Diskussion bringen.

Bislang liegt die politische Agenda exklusiv bei den Parteien. Das ging, solange die Volksparteien die Mehrheit der politisch aktiven Bürger organisierten. Heute haben wir aber andere Verhältnisse, und deshalb braucht es eine Korrektur des Agenda-Settings.

Volksinitiativen auf Bundesebene sind übrigens laut dem deutschen Grundgesetz möglich. Nur gibt es kein praktisches Instrument dafür.

Sie beschreiben einen Prozess jahrelanger Arbeit. Das politische System in Deutschland steckt aber schon in einer Krise. Lässt sich diese überhaupt noch mit der Einführung verstärkt direktdemokratischer Strukturen aufhalten?

Möglicherweise ist es dafür zu spät. Auch wäre es schwierig, das System umzubauen, solange es sich in einer Krise befindet. In der Schweiz ist es in der Phase, in der die Volksrechte eingeführt wurden, zudem zu Instabilitäten gekommen.

Es könnte gut sein, dass Deutschland innerhalb dieses Prozesses mehrere Jahre bräuchte, um wieder vollkommen stabile Verhältnisse zu schaffen. Das soll aber nicht heißen, dass man sich der Überlegung gleich völlig verschließen sollte.

Über direkte Demokratie wird in Deutschland oft im Zusammenhang mit Migrationspolitik diskutiert. Nun werden in der Schweiz Entscheidungen oft langsamer getroffen als in anderen Ländern. Hätte man so die durch die Migrationsbewegung entstandenen Probleme überhaupt effektiver eindämmen können?

Bei der Migrationspolitik hat sich tatsächlich mangels schneller Reaktionsmöglichkeiten Druck auf die Schweizer Regierung aufgebaut. Ich würde auch sagen, dass das teilweise zur Veränderung der Politik bei uns geführt hat. Gegen solchen Druck ist das parlamentarische System in Deutschland resistenzfähiger.

Dass die Flüchtlingsdebatte in Deutschland so hochgekocht ist, liegt aber vor allem daran, dass man versucht hat, das Problem auszusitzen.

Das hat für Unmut gesorgt, der sich sogar in Parteien, die das demokratische System teilweise infrage stellen, Bahn bricht. Hätte es in Deutschland die Möglichkeit von Volksinitiativen gegeben, wäre es nicht soweit gekommen.

Warum nicht?

Durch Volksinitiativen wäre die Regierung spätestens nach einigen Monaten konkret unter Druck geraten. Man hätte deshalb von Anfang an über die verschiedenen Vorstellungen zum sinnvollen Umgang mit dem Problem gesprochen.

Möglicherweise wäre dabei sogar das Programm, das die Bundesregierung verfolgt hat, legitimiert worden. Heute fehlt diese Legitimation, weil über die ergriffenen Maßnahmen nie richtig entschieden wurde und sie dauerhaft angegriffen werden können.

Claude Longchamp ist Verwaltungsratspräsident und Gründer des renommierten Schweizer Sozialforschungsinstituts GfS Bern und Experte zum Thema Direkte Demokratie. Zudem arbeitet er als Lehrbeauftragter für Politik an den Universitäten Bern und Zürich.
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