Recep Tayyip Erdogan, Viktor Orban, Jaroslaw Kaczynski – in Europa arbeiten mehrere Präsidenten und Parteichefs offenbar an autokratischen Strukturen für ihre Länder. Was dran ist an dieser These. Und um wen man sich am meisten sorgen muss.

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Recep Tayyip Erdogan regiere die Türkei wie ein Pascha. Er ersetze dabei eine militärische Autokratie durch eine religiöse. Das schrieb die "Welt" vor mehr als eineinhalb Jahren.

Seither wirkt der türkische Staatspräsident noch rücksichtsloser. Er steht damit nicht alleine. In Polen und Ungarn torpedieren die Regierungschefs und/oder ihre Parteien andere politische Akteure mit fragwürdigen Gesetzesinitiativen. Es drängt sich daher der Eindruck auf, als würden mehrere Staaten in Europa bis in ein Autokratie abgleiten. Aber: Ist das nur ein Gefühl oder ist es wirklich so?

Unsere Redaktion sprach mit dem Programmleiter Osteuropa, Russland und Zentralasien am Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.. Sein Name: Dr. Stefan Meister, Politikwissenschaftler und Polen-Experte.

"Wir beobachten das nicht nur in diesen Staaten. Wir sehen einen Rückzug demokratischer Strukturen wie Checks and Balances sowie eine wachsende Tendenz, dass Staaten autoritärer werden", erklärt Meister. "Es ist ein globaler Trend." Mehrfach arbeitete Meister in der Vergangenheit als Wahlbeobachter für die OSZE.

Recep Tayyip Erdogan konzentriert die Macht auf sich

Beispiel Türkei. "Wir sehen eine Machtkonzentration beim Präsidenten. Die Institutionen, die ihn kontrollieren sollen, werden ausgehebelt: die Zivilgesellschaft, NGOs, das Verfassungsgericht, Gerichte überhaupt", sagt er. Auch über die Sicherheitsorgane konzentriere Erdogan Macht, alternative Meinungen schalte er aus und die Rolle des Parlaments schränke er ein.

Fakt ist: Eine Verfassungsänderung ist durch seine AKP im türkischen Parlament angestoßen. Am Ende muss sie in einer Volksabstimmung beschlossen werden, für die Regierungschef Binali Yildirim den Frühsommer 2017 als Termin nannte. Erdogans Ziel ist ein Präsidialsystem. Daran hat Müller keinen Zweifel.

In Polen ist der Widerstand groß

Beispiel Polen, Meisters Spezialgebiet. "In Polen ist der Widerstand der Opposition und der Gesellschaft größer", schildert er. Zwar versuche die nationalkonservative Regierungspartei PiS das Verfassungsgericht und die Medien in ihrer Freiheit einzuschränken, Budgethoheit zu erlangen und die Opposition zu schwächen, erklärt er. "Doch die Regierung bekommt eben nicht alle Gesetze durch. Gelingt es bis zu den nächsten Wahlen nicht, könnte das Pendel umschlagen. Wir dürfen eben nicht alle Länder über einen Kamm kehren."

Meister warnt dennoch: Mit Andrzej Duda sei ein politischer Ziehsohn des PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynskis ins Präsidentenamt gewählt worden, der sicher kein eigenständiger Akteur sei, erzählt er. "Gleichzeitig ist die Zustimmung gleichbleibend hoch geblieben, da populistische Maßnahme wie höhere Sozialausgaben PiS-Wähler bedienen."

Viktor Orban schafft autoritäre Tendenzen in Ungarn

Beispiel Ungarn. Hier sieht Meister klare autoritäre Tendenzen. "Ministerpräsident Viktor Orban ist es gelungen, die Verfassung zu ändern, das Wahlgesetz zu ändern, Medien und das Verfassungsgericht stärker unter seine Kontrolle zu bringen", sagt er. "Er hat eigene Leute in wichtige Institutionen gesetzt. Die Opposition ist schwach und stark zersplittert, die Zivilgesellschaft wehrt sich nicht in der Breite." Ergo: Die Türkei und Ungarn sind gefährdet.

Marie Le Pen mit Siegchancen in Frankreich

Wer noch? "Die Frage ist immer, inwieweit Rechtspopulisten es schaffen, an die Macht zu kommen und dann auch einen Plan haben. Marie Le Pen vertritt eine stark anti-europäische Politik, in Frankreich könnte solch eine Tendenz im Falle ihrer Wahl kommen", sagt er. Auch in Tschechien schlage Präsident Milos Zeman stark populistische und anti-europäische Töne an.

Selbst unser Nachbar Österreich sei nicht gänzlich gewappnet. "Gemäß Umfragen kann die FPÖ aus den Nationalratswahlen als stärkste Partei hervorgehen", erklärt Meister. "Populismus heißt noch lange nicht autoritäre Strukturen, trotzdem sehen wir, wie leicht demokratische Institutionen zu schädigen sind."

Wladimir Putin hat in Russland ein autoritäres Regime etabliert

In Russland habe sich unter Präsident Wladimir Putin dagegen längst ein autoritäres Regime etabliert, erklärt er. "Hier ist vielmehr die Frage, ob aus Russland eine Diktatur wird. Es gibt keine freien Wahlen und keine Checks and Balances mehr."

Meister bangt weiter um die Türkei, weil Erdogan Fakten schaffe. "Er hat die Kontrolle über die Sicherheitsorgane und er hat die Medien, die ihn kritisieren, mundtot gemacht. Die Demokratisierungsindizes zeigen, dass die Türkei klar in ein autoritäres Regime abgleitet."

In Ungarn seien die Wahlen dagegen noch frei und fair. Am wenigsten macht sich Meister über Polen Sorgen: "Die politischen Institutionen und die Presse sind unabhängig, die Opposition ist funktionsfähig."

Dr. Stefan Meister ist Programmleiter Osteuropa, Russland und Zentralasien am Robert Bosch-Zentrum für Mittel- und Osteuropa der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V. (DPAGP). Zu seinen Fachgebieten gehören die östliche Partnerschaft der EU sowie die Ostpolitik Polens. Von August 2013 bis Juli 2014 war er Senior Policy Expert im Wider Europe Team des European Council on Foreign Relations. Der Politikwissenschaftler arbeitete zudem mehrfach als Wahlbeobachter für die OSZE.
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