• Schwere Erdbeben haben sich Anfang Februar im Grenzgebiet der Türkei und Syrien ereignet und zehntausenden Menschen das Leben gekostet.
  • Die Opferzahlen steigen immer weiter, die Infrastruktur ist in zahlreichen Provinzen zerstört.
  • Kurz nach der Katastrophe kam von der Opposition der Vorwurf, die Regierung von Präsident Erdogan trage eine Mitschuld an den Zerstörungen. Was bedeutet sie für den türkischen Staatschef?
  • Ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist gibt Antworten.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Schwere Erdbeben haben das Grenzgebiet der Türkei und Syrien am 6. Februar erschüttert. Die Zahl der Toten ist inzwischen auf mehr als 37.500 gestiegen. Noch immer werden viele Menschen vermisst, sodass die tatsächlichen Opferzahlen noch weitaus höher sein dürften.

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In der Türkei ist bereits eine Debatte entbrannt, warum die Regierung nicht mehr in die Erdbebensicherheit investiert hat. Dabei gibt die Opposition der Regierung von Präsident Erdogan eine Mitschuld für die Zerstörungen. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu kritisierte die Regierung während eines Besuchs im Erdbebengebiet dafür, während ihrer 20 Jahre an der Macht die Bauvorschriften nicht durchgesetzt zu haben.

Kein Wirtschaftssektor ist so eng mit der Regierung verbunden wie die Baubranche. Die Regierung soll zugelassen haben, dass viele Gebäude ohne Genehmigung gebaut wurden und zudem gegen Zahlungen Millionen illegal errichteter Gebäude legalisiert haben.

Türkische Regierung scharf in der Kritik

Seit der Erdbebenkatastrophe 1999 werden in der Türkei Sondersteuern erhoben, die für die Katastrophenprävention vorgesehen sind. Neben einer Erdbebensteuer zählt dazu auch eine Steuer auf Mobilfunkdienste, mit der die Verbesserung der Kommunikationsinfrastruktur finanziert werden soll. "Wo ist dieses Geld?", fragte der CHP-Vorsitzende Kilicdaroglu während seines Besuchs in der stark betroffenen Provinz Hatay und warf der Erdogan-Regierung vor: "Die Leute, die ihr ganzes Leben Steuern an den Staat gezahlt haben, sehen nichts von diesem Staat, wenn sie ihn brauchen. "

Die Auswirkungen des Erdbebens würden in direktem Zusammenhang mit der Politik von Präsident Erdogan stehen. "Wir sind an diesem Punkt wegen seiner Politik", so der Oppositionschef. Aus Sicht Erdogans kommen solche Stimmen von "Provokateuren", er rief das Volk zu Einigkeit auf. Bereits in der Vergangenheit hatte der türkische Präsident auf eine Anfrage der Opposition nach der Verwendung der Steuern geantwortet, seine Regierung habe "keine Zeit, über solche Sachen Rechenschaft abzulegen". Nun ließ die Justiz vier Personen, die sich im Internet kritisch geäußert hatten, festnehmen.

Wichtige Wahlen im Mai

Zwischenzeitlich war die Online-Plattform "Twitter" nicht erreichbar, mutmaßlich wegen einer Sperre durch die Regierung. Verschüttete Menschen hatten immer wieder über soziale Medien Hilferufe abgesetzt. Gleichzeitig hatten viele Bürger beklagt, keine Hilfe von den Behörden bei der Suche nach Überlebenden und der Versorgung der Opfer zu erhalten.

Erdogan begründete Probleme beim Hilfseinsatz mit beschädigten Straßen und Flughäfen. Gleichzeitig versprach er, niemand werde auf der Straße sitzen gelassen. Bis zum 14. Mai, wenn die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden, wird der türkische Staatschef sich an diesem Versprechen messen lassen müssen.

Wiederwahl Erdogans könnte erschwert sein

"Die Erdbebenkatastrophe und ihre Folgen können Staatspräsident Erdogan die Wiederwahl im Mai erschweren", sagt auch Türkei-Experte Rasim Marz. In den zehn betroffenen Provinzen leben Millionen Wählerinnen und Wähler.

"Die türkische Regierung hat in den letzten Monaten Milliarden in die Hand genommen, um enttäuschte oder unentschlossene Wähler mit großen sozialen Projekten für die AKP zurückzugewinnen", erinnert der Experte. Dazu würden die Mindestlohnerhöhung, die Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus sowie die Einführung eines flexiblen Rentensystems zählen. "Die Bedeutung dieser Wahlgeschenke wird jetzt verständlicherweise durch die schlimmste Erdbebenkatastrophe der jüngeren türkischen Geschichte weit in den Schatten gestellt", sagt Marz.

Experte: "Krisenmanagement ausschlaggebend"

Eine Katastrophe in dieser Größenordnung habe es in der türkischen Geschichte bisher nicht gegeben. "Das Krisenmanagement unter Präsident Erdogan wird daher für seine Wiederwahl ausschlaggebend sein", ist er sich sicher. Die Regierung mobilisiere derzeit alles und jeden, um letztlich der Situation Herr werden zu können.

Nach Angaben der Katastrophenschutzbehörde Afad lag das Epizentrum des Bebens in der Provinz Kahramanmaras nahe der syrischen Grenze. Ein weiteres Beben sei kurz darauf in der Provinz Gaziantep gemessen worden. "Das Krisengebiet ist halb so groß wie die deutsche Bundesrepublik", verdeutlicht Marz.

Das Krisenmanagement der türkischen Regierung werde bereits jetzt stark kritisiert. "Obwohl über 100.000 Einsatzkräfte vor Ort sind, bleiben die logistischen Herausforderungen überall aufgrund von zusammengebrochener Infrastruktur bestehen", sagt er.

Erdogan als Erneuerer und Erbauer?

Auch wenn die staatlichen Hilfen schnell vor Ort präsent gewesen seien, so würden rationale Fakten die schwer traumatisierten Überlebenden trotzdem nicht erreichen können. "Ähnliche Phänomene konnte man auch im Ahrtal beobachten. Der Verlust von Familienangehörigen und Besitz wiegt so schwer, dass das staatliche Krisenmanagement immer einer starken Kritik ausgesetzt bleibt", erklärt Marz.

Kritiker meinen, die Regierung habe die Erdbebensicherheit leichtfertig dem Wachstum und Profit geopfert. Seit 2002 hat die Türkei unter der AKP-Regierung einen ungesehenen Bauboom erlebt. Die staatliche Wohnungsbaugesellschaft "Toki" hat vor allem im Süden und Osten des Landes Tausende von Wohnblocks hochgezogen. Viele davon haben den Erdbeben aber nicht standgehalten. Landesweit gelten fast 900.000 Gebäude als marode und gefährdet, ein Großteil davon in Istanbul.

Aus Sicht von Marz besteht für Präsident Erdogan die große Gefahr, dass die Opposition sich die Kritik für den Wahlkampf zu eigen macht. "Er kann sich jedoch auch als Erneuerer und Erbauer an die Spitze des Wiederaufbaus stellen und somit einen Wahlsieg erringen", zeigt der Experte auf. Die nächsten Wochen würden entscheiden, ob Präsident Erdogan mit seiner Regierung das Vertrauen des türkischen Volkes weiterhin besitze oder im Zuge der Katastrophe verloren habe.

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Einfluss auf Beziehung zur Türkei

Auch für die westlichen Länder ist die Erdbebenkatastrophe von Bedeutung. Um zusätzliche Hilfe für die Türkei und Syrien auf den Weg zu bringen, plant die EU für Anfang März eine Geberkonferenz in Brüssel. Internationale Katastrophenteams, auch aus Deutschland, sind vor Ort im Einsatz.

"Die Hilfe, die dem türkischen Volk aus allen Ländern der Erde und natürlich auch aus Deutschland und der Europäischen Union dargebracht wird, ist beispiellos und wird auch innerhalb der Türkei das Bild des Westens positiv beeinflussen", sagt Marz. Bereits jetzt seien neue Impulse in den diplomatischen Beziehungen spürbar, die darauf schließen ließen, dass es zu einer Wiederbelebung der europäisch-türkischen Beziehungen kommen werde.

Die türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai würden auch von der westlichen Staatengemeinschaft mit großem Interesse verfolgt. Marz glaubt allerdings: "Die Erdbebenkatastrophe wird keinen Wandel in den offenen Streitthemen wie des Nato-Beitritts von Schweden und Finnland, der türkischen Russland- und Syrienpolitik bringen." Die Fronten seien hierbei nahezu verfestigt und es sei auszuschließen, dass die Türkei unter Präsident Erdogan westlichen Forderungen entgegenkommen werde.

Über den Experten: Rasim Marz ist ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die europäische und osmanische Diplomatie des 19. Jahrhunderts sowie die Subversion des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert.
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