Sawsan Chebli legte eine steile Karriere hin, vom Kind Geflüchteter zur Staatssekretärin im Berliner Senat, in dem sie bis 2021 tätig war. Doch der Widerstand war gewaltig, gerade in den sozialen Medien. Über diese Erfahrungen sprach sie mit unserer Redaktion. Auch erzählt die Autorin und SPD-Politikerin, wie sie sich gegen Hass und Drohungen wehrt.

Ein Interview

Frau Chebli, Sie sind mit zwölf Geschwistern aufgewachsen, ihr Vater wurde zweimal aus Deutschland abgeschoben. Wie viel von der Wut aus Ihrer Kindheit steckt noch heute in Ihnen?

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Meine Biografie ist der treibende Motor für das, was ich heute tue und sage, das, was ich heute bin. Mit fünf Jahren habe ich meinen Vater in der Abschiebehaft besucht, habe erlebt, wie es ist, keine Stimme zu haben und den Schikanen des Systems und Launen von Beamt:innen ausgesetzt zu sein. Hinzu kam, dass wir bitterarm waren. Mir war sehr früh klar: Dieses Leben, diese Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer, die möchte ich nicht mehr haben. Also habe ich mich gebildet, bin in die SPD gegangen und habe sehr früh gelernt, meiner Stimme Gehör zu verschaffen.

2018 entstand eine Diskussion in den sozialen Medien, weil sie eine Rolex-Uhr trugen. Offenbar waren Menschen der Meinung, dass das nicht zu Ihnen passt.

Ich empfinde diese Debatte angesichts krasser sozialer Ungerechtigkeiten in Deutschland und auf der Welt als Zeitverschwendung. Anstatt mich als Sozialdemokratin und Kind von Geflüchteten wegen der Rolex mit Hass zu überschütten, sollten wir uns mit Armutsbekämpfung beschäftigen und mit der Frage, wie sozialer Aufstieg auch dann gelingen kann, wenn die Eltern kein dickes Portemonnaie haben oder keine Akademiker:innen sind.

Denn Fakt ist, dass seit 2005 in Deutschland konstant jedes fünfte Kind in Armut aufwächst und dass es im Schnitt sechs Generationen dauert, bis Kinder aus armen Familien ein Durchschnittseinkommen erlangen. Das ist der Skandal, nicht meine Rolex.

Sie waren früher vorlaut, so schreiben Sie in Ihrem neuen Buch "Laut", und erkannten den Nutzen des gesprochenen Wortes. Wie haben sich die Erfahrungen aus Ihrer Kindheit auf Ihre Berufswahl ausgewirkt?

Das Leben als Kind palästinensischer Geflüchteter hat mich stark politisiert. Schon als Teenager war mir klar, dass es nicht reicht, wenn man nur auf den Straßen für seine Rechte demonstriert. Besser ist es, einer Partei beizutreten und sich so Gehör zu verschaffen.

Gehör verschafft haben Sie sich auch nach den Silvesterkrawallen und der Vornamen-Debatte bei Twitter: "Verdächtige der Silvesternacht: 45 Deutsche, 27 Afghanen, 21 Syrer. Gelaber von Abschiebung also Schwachsinn. Sind sie gewalttätig, weil sie Migranten sind? Nein. Ist eine hochexplosive soziale Frage. Was tun? Rechtsstaat durchsetzen und den Jungs Perspektiven fürs Leben geben."

Wir müssen endlich aufhören, Integrationskonflikte zu ethnisieren und zu kulturalisieren. Das bringt uns keinen Schritt weiter. Bereits heute gibt es Städte in Deutschland, in denen jedes zweite Kind aus einer Einwanderfamilie kommt. In einigen Städten werden Deutsche ohne Einwanderungsgeschichte bald in der Minderheit sein.

Es muss in unser aller Interesse liegen, dieses Land gemeinsam zukunftsfähig zu machen. "Paschadebatten" oder Fragen nach Vornamen oder Hautfarbe helfen niemandem.

Sawsan Chebli über Twitter: "Rückzug ist keine Option"

Wie häufig haben Sie in Ihrem Leben mit Diskriminierung und Hatespeech zu tun?

Mich erreicht auf unterschiedlichen Kanälen jeden Tag Hass. Da ist viel Strafbares dabei. Ich bin froh, dass die Organisation Hate-Aid mir dabei hilft, rechtlich dagegen vorzugehen.

Und das in den "sozialen" Medien.

Das Netz ist toxisch und asozial und hat zugleich eine gigantische soziale Kraft. Es kann einerseits demokratische Protestbewegungen befeuern, es kann aber auch Demokratien ins Wanken bringen. Ein großes Problem ist, dass rechte Kräfte das Netz viel erfolgreicher nutzen als wir Demokratinnen und Demokraten. Sie haben sehr früh den Raum für sich erobert und agitieren viel effizienter, indem sie mit Desinformationen, gezieltem Hass und Diffamierungen und Gewaltandrohungen operieren. Das Internet insgesamt bietet Extremisten aller Couleur einen idealen Nährboden zur Vernetzung und zur Mobilisierung.

Das hört sich nach einem beinahe unlösbaren Problem an.

Es ist eine Mammutaufgabe, aber wir können uns auch nicht einfach rausziehen. Bereits heute tauscht sich über die Hälfte der gesamten Menschheit im Schnitt zweieinhalb Stunden in den sozialen Medien aus. 87 Prozent interagieren in Deutschland über soziale Netzwerke. Politische Entscheidungen werden schon heute vor dem Hintergrund von Debatten im Netz und dem dort erzeugten Druck getroffen. Die Protestbewegung "Black Lives Matter" etwa hätte ohne Social Media niemals ihre gigantische Wirkungsmacht entfaltet. Über die Proteste im Iran wüssten wir wenig ohne soziale Netzwerke. Die Zukunft unserer Demokratie wird im Internet verhandelt, ob es uns gefällt oder nicht.

Die SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken hat Twitter verlassen. Das scheint für Sie keine Lösung zu sein.

Saskia Esken hat recht, wenn sie sagt, dass der Zugang zu Plattformen genauso wichtig ist wie der Zugang zu Strom oder Wasser. Sie spricht sogar von "öffentlicher Daseinsvorsorge im digitalen Zeitalter". Nur frage ich mich, wo genau man diese "öffentliche Daseinsvorsorge" ausleben soll. Ich bleibe dabei: Rückzug ist keine Option. Solange es keine gute Alternative gibt, sollten wir unseren Platz in den sozialen Netzwerken verteidigen und nicht den Hatern das Feld für verbale Gewalt und die Verbreitung von Falschnachrichten überlassen. Vielmehr sollten wir deutlich größere Anstrengungen machen, soziale Netzwerke zu regulieren.

"Digitale Gewalt ist echte Gewalt", schreiben Sie in Ihrem Buch. Was meinen Sie damit?

Seit dem Mord an Walter Lübke ...

… der CDU-Politiker, der 2019 als Regierungspräsident von Kassel wegen seines Engagements für Geflüchtete umgebracht wurde …

... sollte jedem klar sein, dass Hass im Netz töten kann. Der Messerangriff auf die Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker für ihre Flüchtlingspolitik oder die Explosion des Autos des ehemaligen Stadtrats Michael Richter sind weitere Beispiele, wie aus Hass im Netz Gewalt im realen Leben wird. Auch der Sturm aufs Kapitol, der Sturm aufs Parlament in Brasilien, der Terror in Myanmar, all das zeigt, wie lebensbedrohlich, gar tödlich Desinformation und Hatespeech sind.

Hassnachrichten jeden Tag

Ich stelle es mir nicht so leicht vor, tagtäglich Hass-Nachrichten zu bekommen.

Es lässt mich ja nicht kalt. Aber ich habe mit der Zeit gelernt, den Hass nicht zu nah an mich ranzulassen, das wäre zu viel Gift und es würde mich auch zu viel Kraft kosten. Kraft, die ich brauche, um meine Stimme bei Themen zu erheben, die mir am Herzen liegen.

Ihr Vater habe 13 Kinder, sei nicht arbeiten gegangen und habe sich vom Steuerzahler finanzieren lassen - dieser Twitter-Kommentar aus Ihrem Buch klingt nicht unbedingt nach einem weiblichen Absender mit Migrationshintergrund.

Die Mehrheit der Hasskommentare kommt von Männern. Auch das meiste, was ich bisher zur Anzeige gebracht habe, richtete sich gegen Männer mit deutschem Namen.

Nehmen Shitstorms mit dem Grad der Bekanntheit zu?

Seit Ende 2016, seitdem ich auf Twitter bin und Position beziehe, kriege ich den Hass zu spüren. Wenn ich laut bin, sind die Hater auch laut. Bin ich leise, sind sie leiser. So geht es vielen Menschen, vor allem Frauen, in der Öffentlichkeit. Diese sind überproportional oft von Hass betroffen. Ich weiß heute, dass es bei den Angriffen nicht um mich als Person geht, sondern es geht um die Werte, für die ich kämpfe, wie eine plurale, diverse Gesellschaft, in der alle Menschen gleiche Rechte haben, unabhängig von Herkunft oder Religion.

Wo holen Sie sich Kraft her?

Meine größte Kraftquelle ist meine Familie, aber auch Freunde und Bekannte. Frauen-Netzwerke, in denen ich aktiv bin, geben mir Kraft und auch positive Zuschriften, die sich vereinzelt in meinem Postfach finden. All das hilft mir nach jedem Shitstorm, immer wieder aufzustehen.

Trotz der Hassnachrichten bleiben Sie online. Die digitale Präsenz scheint Ihnen wichtig zu sein, Sie haben 123.000 Follower bei Twitter.

Ich nutze meine Reichweite, um auf Themen, die mir am Herzen liegen, aufmerksam zu machen. Ich kann Debatten anstoßen oder Diskussionen größere Aufmerksamkeit verschaffen. Ich hätte mir gewünscht, es hätte damals, als mein Vater abgeschoben wurde, Twitter oder Facebook gegeben, wir hätten über unser Schicksal berichtet. Vielleicht hätte die Abschiebung gestoppt werden können, so wie es jetzt immer wieder passiert. Aber wir hatten nichts. Wir waren ohnmächtig.

"Feminismus war lange nicht mein Ding"

In Ihrem Buch kommt fast 200 Mal das Wort "Hass" vor; "Liebe" dagegen nur 19 Mal. Ist das ein Ausdruck Ihres Kampfes oder ein Ausdruck unserer Gesellschaft?

Wenn im Netz genügend Liebe wäre, müssten wir uns nicht mit dem Thema Hass und Gewalt auseinandersetzen. Deshalb ist mein Aufruf, dass Menschen ihr Verhalten im Netz reflektieren, ihre Komfortzone verlassen, sich solidarisch zeigen mit den Betroffenen, Zivilcourage zeigen. Lovestorms, das bräuchten wir.

Worin sehen Sie das "demokratisierende und befreiende Potenzial" von sozialen Medien – und funktioniert das eher in weniger demokratischen Staaten als in Deutschland?

Es gibt etliche Beispiele, die zeigen, wie relevant soziale Medien für demokratische Bewegungen sind. Iranerinnen tanzen ohne Kopftuch auf den Straßen ihres Landes und posten dazu Videos in den sozialen Medien, damit sie der Welt zeigen, wie entschlossen sie sind in ihrem Kampf gegen das Regime. Die Menschen in der Ukraine haben in den ersten Wochen des Krieges soziale Medien als Waffe eingesetzt in ihrem Kampf um Freiheit. Die "Black Lives Matter"-Bewegung, #Metoo oder #aufschrei, dies alles sind Beispiele, die zeigen, welche positive Macht soziale Medien haben, und zwar nicht nur in Staaten, in denen es keine Meinungsfreiheit gibt, aber dort umso mehr.

Kampf gegen Hass in den sozialen Medien

Sie haben mit Facebooks Mutterkonzern Meta gesprochen. Was ist Ihre Erkenntnis aus dem Gespräch? Unternimmt der Tech-Konzern genügend gegen Hass auf seinen Plattformen?

Nach dem Gespräch hatte ich mehr Fragen als vorher. Der Umgang mit Desinformationen scheint bei Meta eine große Baustelle zu sein. Lebensgefährdende Infos werden entfernt. Alle anderen Inhalte schickt der Tech-Konzern zu unabhängigen Faktenprüfern. Nach der Überprüfung werden die Inhalte nicht gelöscht, sondern mit einem Label gekennzeichnet. Dadurch würden dann 95 Prozent der Nutzer diese nicht weiterverbreiten. Niemand kann diese Zahl verifizieren.

In puncto ‚Moderation von Inhalten‘ sieht man am Beispiel von Donald Trump, dass mit seinem Account anders umgegangen wurde. Trotz der Hassrede-Richtlinien wurden die Inhalte stehen gelassen. Hass generiert Bewegung in den sozialen Medien. Und das wiederum Profit. Von daher ist es fraglich, inwieweit Meta wirklich gegen Hatespeech vorgehen will.

Unternimmt der Gesetzgeber auf nationaler und europäischer Ebene genug gegen digitale Gewalt?

Die Ansätze sind da, wie etwa das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, mit dem die Rechte der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Netzwerke gestärkt werden sollen. Wer im Netz bedroht oder beleidigt wird, muss die Möglichkeit haben, dies dem sozialen Netzwerk einfach und unkompliziert anzuzeigen.

An der Umsetzung hapert es noch. Besonders die Justiz muss in dem Bereich fortgebildet werden, deswegen gibt es ja Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften. Für viele Staatsanwälte ist der Umgang mit digitaler Gewalt Neuland. Auch eine Sensibilisierung der Polizei muss erfolgen. Wir sind immer noch am Anfang unseres Kampfes zur Regulierung der US-Giganten.

Sie sind Muslima und Feministin. Wie war Ihr Weg dorthin?

Etwas steinig. Feminismus war lange nicht mein Ding. Es gab einige Frauen, die Solidarität wirklich lebten, aber ansonsten haben mir Frauen eher Steine in den Weg gelegt. Außerdem verband ich Feminismus zu sehr mit Alice Schwarzer, die immer wieder anti-muslimische Parolen verbreitete. Als ich erstmals öffentlich über Sexismus sprach, hat sich das gewandelt. Feministinnen wie Theresa Bücker haben sich hinter mich gestellt und erstmals habe ich mich mit dem intersektionalen Feminismus …

… eine Strömung des Feminismus, die sich aus dem schwarzen Feminismus entwickelt hat und lehrt, dass es neben Sexismus auch andere Diskriminierungsformen gibt, die ebenso abgebaut werden müssen. Etwa die der Herkunft ...

... auseinandergesetzt. Erstmals hatte ich das Gefühl, dass auch ich als Muslimin im Feminismus Platz habe. Als eindrückliches Beispiel erwähne ich im Buch Malala Yousafzai aus Pakistan, die als Kinderrechtsaktivistin 2014 den Friedensnobelpreis erhielt.

Am Ende Ihres Buchs zeigen Sie "Wege des Lautwerdens" auf. Wie können die aussehen?

Lautsein beginnt damit, dass wir erkennen, dass unsere Stimme zählt und einen Unterschied macht. Lautwerden wir, indem wir uns solidarisch mit den Opfern digitaler Gewalt zeigen. Das muss nicht immer öffentlich sein, das geht auch über eine persönliche Nachricht. Oder: Selbst Inhalte produzieren und sich in Debatten einmischen, wenn man das Gefühl hat, gegen möglichen Hass gewappnet zu sein.

Ich würde mir wünschen, dass wir Hass im Netz und digitale Gewalt nicht mehr wie eine Bagatelle behandeln. Hass im Netz geht nicht nur die Betroffenen etwas, er geht uns alle an. Es ist ein Aufruf an alle, raus aus der Beobachterrolle zu kommen. Ich wünsche mir: Schluss mit dem Schweigen!

Über die Gesprächspartnerin: Sawsan Chebli, Jahrgang 1978, ist Berliner SPD-Politikerin und war bis 2021 Staatssekretärin im Berliner Senat. Bei der Bundestagswahl 2021 unterlag sie bei der parteiinternen Vorwahl Michael Müller. Chebli ist auch Autorin.
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