Hexerei, Ehebruch, Abfall vom Glauben: Die Aufzählung der Vergehen klingt wie eine Reise ins Mittelalter. In Saudi-Arabien können diese Vorwürfe auch im Jahr 2015 noch tödlich sein.

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Todesurteile und Prügelstrafen sind Alltag im Wüstenstaat. Fälle wie der eines Saudis, der kürzlich seiner indischen Haushaltshilfe eine Hand abhackte, weil sie nach ihrem ausbleibenden Lohn gefragt hatte, empören die Welt. Nahost-Experte Sebastian Sons erklärt, wie die Bevölkerung dort tickt und warum Saudi-Arabien als engster Verbündeter des Westens in der Region eigentlich alternativlos ist.

Wie beurteilen Sie die aktuellen Entwicklung der Menschenrechte in Saudi-Arabien?

Sebastian Sons: Der neue König Salman wollte nach seiner Amtsübernahme Stärke beweisen und ließ zahlreiche Dissidenten verhaften. Er erließ viele neue Todesurteile, um sich als Hardliner zu profilieren. Das ist der politische Grund für die Brutalisierung des saudischen Rechtssystems. Ich würde anzweifeln, dass die Maßnahmen – wie offiziell propagiert - auf islamischem Recht beruhen. Saudi-Arabien praktiziert eine puristische Form der sunnitischen Strafauslegung, die mit dem Alltagsislam recht wenig gemein hat.

Warum sind immer wieder Ausländer Opfer von brutalen Misshandlungen und Willkür?

Im Land herrscht eine Menschenrechtssituation, die gegenüber Ausländern ziemlich willkürlich ist: Nicht-westliche Ausländer haben manchmal gar keine Rechte. Die Situation der vielen Arbeitsmigranten, oft aus Indonesien, Indien oder dem Jemen ist noch viel schlechter und schlimmer. Saudische Systemkritiker und Blogger werden zwar weggesperrt und bestraft, doch ausländische Hausangestellte beispielsweise unterliegen gar keinem Gesetz und sind komplett der Kontrolle ihres Bürgen unterworfen, der sie angestellt hat.

Meist beziehen die Saudis über Agenturen ihr Personal. Der saudische Staat hat zwar versucht, die Rechtssituation der Arbeitsmigranten zu verbessern, doch findet dies oft keine Beachtung. Die Lage ist gewissermaßen, wie sie ist - man kann Privatleute kaum belangen. Traditionell übernimmt ein Saudi seit Jahrhunderten den Schutz seines Gastes – und gleichzeitig auch die Wahrung all seiner Rechte. Das hat sich im Laufe der Zeit verselbständigt und zu dem Zustand der Gegenwart geführt.

Wie ist in Saudi-Arabien das Verhältnis zwischen Königshaus und Bevölkerung?

Prinzipiell gut. Die Mehrheit der Saudis hat 2011 gesehen, was als Folge der Arabischen Aufstände in Syrien oder Ägypten los war. Das Chaos, die Unruhen, das will das Volk nicht. Das Königshaus ist ein Garant für Stabilität und Wohlstand. Es herrscht eine breite Zustimmung für das politische System, den politischen Kurs und die Herrscherfamilie selbst.

Eine saudische Revolution ist derzeit unvorstellbar - bei der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung jedenfalls. Die jüngste Katastrophe während der Pilgerfahrt in Mekka allerdings wird unter vorgehaltener Hand dem König angekreidet. Er ist der Schutzpatron aller muslimischen Mekka-Pilger der Welt und konnte ausgerechnet bei seiner ersten Pilgerfahrt nicht die Sicherheit aller Gläubigen garantieren.

Hat sich die saudische Gesellschaft durch die Einflüsse der Arabischen Aufstände verändert?

Der Grad der Politisierung hat sich dramatisch erhöht, Frauenrechte oder Menschenrechte werden nun debattiert. Vor allem in den sozialen Netzwerken finden heftige Debatten statt und auch in der Politik. Es gibt nun eine politische Öffentlichkeit, ein Diskurs hat sich entwickelt. Die Kritik am Königshaus ist aber ein Tabu.

Seit Monaten sinkt der Ölpreis, Saudi-Arabiens Wirtschaft darbt. Welche Auswirkungen hat das auf die Bevölkerung?

Der Unmut in der Gesellschaft wächst. Der sinkende Ölpreis hat die sozioökonomische Situation dramatisch verschlechtert – und damit auch die Stimmung. In einem Land mit einem Bevölkerungsanteil von knapp 50 Prozent der Menschen, die 30 Jahre oder jünger sind, liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei etwa 30 Prozent. Es gibt nach wie vor viele Reiche, doch das Bruttoinlandsprodukt liegt bei nur 30.000 US-Dollar pro Kopf. Junge Leute finden nur schwer einen Job und sehen sich mit der neuen Situation konfrontiert, sich in der Privatwirtschaft einem Wettbewerb stellen zu müssen.

Warum setzt der Westen dennoch auf Saudi-Arabien als Ansprechpartner im Nahen Osten?

Saudi-Arabien wird als Stabilitätsanker gesehen. Das Land ist ein Regime, das funktioniert. Es kann Grenzen sichern und hat seine Bevölkerung im Griff. Saudi-Arabien ist zudem wirtschaftlich sehr wichtig. Das ist ein Hauptkriterium für die Kooperation des Westens mit dem Königreich: Die Saudis sind eine Wirtschaftsmacht und außerdem ein wichtiger Absatzmarkt mit 30 Millionen Konsumenten.

Schließlich hat der Westen keine wirkliche Alternative auf arabischer Seite und der Umgang mit der Türkei ist traditionell schwierig, während sich das Verhältnis mit dem Iran nur langsam verbessert. Ansonsten gibt es im Nahen Osten kaum noch funktionierende Regierungen. Die Saudis haben sich außerdem als verlässlicher politischer Partner gezeigt, ihre politische Diplomatie war oft pragmatisch und realpolitisch geprägt.

Wie beurteilen Sie den aktuellen Stand der westlichen Waffenlieferungen ins Land?

Es ist fraglich, dorthin Waffen zu liefern. Man gießt erstens zusätzliches Öl ins Feuer und weiß zweitens nie, wofür die Waffen eingesetzt werden. Außerdem ist es höchst fraglich, was diese Waffenlieferungen Saudi-Arabien wirklich bringen. Das Land hat kaum militärische Kapazitäten und Expertise, um die Waffen auch adäquat einsetzten zu können. Grundsätzlich sind die Lieferungen nicht im Sinne einer werteorientierten und nachhaltigen deutschen Außenpolitik.

Wie ist der aktuelle Stand des saudischen Engagements im Jemen?

Aus saudischer Sicht ist der Jemen eine totale Katastrophe. Sie haben dort eine humanitäre Katastrophe verursacht. Zudem kostet der Krieg pro Monat etwa 150 Millionen US-Dollar, das können sie sich eigentlich nicht leisten. Und früher oder später kommen die ersten Flüchtlinge aus dem Jemen - denn wo wollen sie sonst hin? Aktuell sehe ich keinen Ansatz für eine politische Lösung und glaube nicht, dass Saudi-Arabien eine Exit-Strategie hat.

Der Krieg wurde hauptsächlich deshalb begonnen, weil der neue König Salman sich und seinen Sohn Muhammad, der Verteidigungsminister und stellvertretender Thronfolger ist, etablieren wollte. Die Botschaft sollte sein: Wir können auch alleine handeln und sind stark genug. Doch ich sehe kein außenpolitisches Konzept zur Lösung des Konflikts und nun müssen sie irgendwie gewinnen. Der Krieg hat in der Bevölkerung zuerst eine große Euphorie verursacht, doch die Abneigung wächst.

Welches außenpolitische Kalkül verfolgt das Königshaus derzeit im Nahen Osten?

Die beiden Hauptziele sind unverändert die Eingrenzung des Iran und die Sicherung der eigenen Stabilität und Legitimation. Doch aktuell verändert sich die Strategie von einer diplomatischen zu einer interventionistischen Lösung. Der Angriff auf den Jemen ist ein recht neues Phänomen. Saudi-Arabien fühlt sich eingekesselt von Feinden, hat Angst vor dem Iran. Doch beide Staaten wollen, dass sich die Region wieder stabilisiert und müssen nun einen Kompromiss finden.

Es ist eine Art Erbfeindschaft zwischen beiden Staaten, ähnlich wie zwischen Pakistan und Indien oder früher zwischen Deutschland und Frankreich. Dabei geht es nicht um rationale Gründe. Saudi-Arabien hat eine Art Paranoia gegenüber dem Iran, den sie für alles pauschal beschuldigen und in ihm das ultimativ Böse sehen.

Sebastian Sons arbeitet bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) im Projekt "Engagement der Golfstaaten Saudi-Arabien, Katar und Vereinigte Arabische Emirate in Ägypten und Tunesien". Er promoviert derzeit zu pakistanischen Arbeitsmigranten in Saudi-Arabien an der Berliner Humboldt-Universität.
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