Die Gäste von Sandra Maischberger gehen der Frage nach, warum immer mehr Menschen in Deutschland obdachlos sind. Über die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergründe gab es Streit. Doch auf erste Lösungen kann man sich eigentlich einigen.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Fabian Busch dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Die vertrackte deutsche Regierungsbildung hat in den vergangenen Monaten die Tagesordnungen der politischen Talkshows bestimmt. Bei Sandra Maischberger steht am Mittwochabend angenehmerweise eine Abwechslung auf dem Programm – wobei "angenehm" nicht das passende Wort ist.

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Schließlich geht es um ein tragisches Thema: Menschen, die ohne ein festes Dach über dem Kopf auskommen müssen. Menschen, die im täglichen Überlebenskampf Armut, Ausgrenzung und Gewalt erfahren.

Rund 860.000 Menschen in Deutschland haben keine feste Wohnung, etwa zehn Prozent davon leben im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße, Tendenz steigend.

Um diese Zahl anhand von menschlichen Schicksalen zu verdeutlichen, sitzen zwei Gäste im Studio, die wissen, wovon sie reden.

Jaqueline Kessler ist mit 17 aus einem Jugendheim ausgerissen, hat mehrere Jahre ohne feste Wohnung verbracht, drei Kinder bekommen und sie in Pflegefamilien geben müssen. Erst eine Arbeit als Hundesitterin brachte ihr wieder Selbstwertgefühl.

Es gibt Hilfe – aber zu wenige wissen davon

Klaus Seilwinder hat acht Jahre in Berlin als Obdachloser gelebt, jeden Tag Flaschen gesammelt, um ein bisschen Geld für Zigaretten, Alkohol und Essen zusammenbekommen.

Inzwischen hat er wieder eine feste Wohnung, doch sein Aufstieg hat viel Überwindung gekostet. "Das Schwerste war der erste Schritt", sagt er – in seinem Fall der Gang zu einem Amt, um an einen Ersatz für den gestohlenen Personalausweis zu kommen.

Die Betroffenen sind sich einig: Wer sagt, in Deutschland müsse kein Mensch auf der Straße leben, macht es sich zu einfach. "Es gibt in Berlin viele Anlaufstellen. Aber die Adressen kennen viele nicht. Und viele wissen gar nicht, dass es sie gibt", sagt Klaus Seilwinder.

Das Unwissen über staatliche Hilfe ist das eine, die Angst vor den Behörden das andere.

Tagesschau-Sprecherin als Obdachlose

Das sagt auch Judith Rakers. Die Tagesschau-Sprecherin hat für eine Reportage 30 Stunden als Obdachlose verbracht.

Diese journalistischen Selbstversuche sind stets von begrenzter Aussagekraft, weil ein Mensch in 30 Stunden nicht nachfühlen kann, wie es ist, diesen Zustand jahrelang durchzumachen.

Eindrückliche Erfahrungen machte sie durch die Reportage trotzdem: Andere Obdachlose rieten Rakers unter einer Brücke zum Beispiel, den Schlafsack nachts nicht zu zu machen - dann könne sie nicht so schnell herauskommen, wenn jemand ihn anzünde.

Alkohol und Drogen verteufelt Rakers nicht - nach ihrer Einschätzung helfen sie Menschen auf der Straße, das schwierige Leben überhaupt zu ertragen.

Journalistin gegen Armutsforscher

Lange läuft die Sendung ohne große Kontroversen ab. Doch für den Streit sorgen dann doch noch der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge sowie Dorothea Siems, Wirtschaftsredakteurin der Zeitung "Die Welt".

Beide sind eher für die großen Zusammenhänge zuständig – und haben völlig unterschiedliche Ansichten.

Für Siems macht der deutsche Sozialstaat schon zahlreiche Hilfsangebote. Ein Staatsversagen sieht sie eher darin, dass Deutschland über die Flüchtlinge hinaus zu viele Zuwanderer aus Osteuropa ins Land gelassen habe, die heute einen großen Anteil der Wohnungslosen ausmachen.

Im großen Stil neuen Wohnraum zu schaffen, hält sie für schwierig: "Energievorschriften und Klimaschutz waren uns wichtiger als alles andere. Das macht Wohnen extrem teuer."

Christoph Butterwegge, 2017 Bundespräsidentenkandidat der Linken, sieht das Grundübel dagegen in der Privatisierung des Wohnungsbereiches.

Ja, es werde gebaut, sagt er – aber nur im Luxussegment, weil sich der Bau günstiger Wohnungen für Investoren nicht lohne.

Fehlender politischer Wille?

Der Streit wäre vielleicht gar nicht nötig. Denn wenn es um die Frage geht, wie man das Problem angehen könnte, wären sich die Gäste zumindest in einigen Punkten einig.

Ortrud Wohlwend von der Berliner Stadtmission mahnt genau wie Welt-Journalistin Siems erstens mehr "aufsuchende Sozialarbeit" an: Sozialarbeiter also, die auf Menschen zugehen, die in Not geraten könnten und nicht wissen, an wen sie sich wenden sollten.

Und zweitens müssten in Deutschland mehr bezahlbare Wohnungen gebaut werden. Dass es daran mangele, habe auch etwas mit fehlendem politischen Willen zu tun, glaubt Judith Rakers.

Armutsforscher Butterwegge kann den schon daran erkennen, dass es keine amtliche Statistik zur Zahl von Obdachlosen gibt. "Man erfasst nur, was man wissen will, um die eigenen politischen Ziele durchzusetzen", sagt er.

Ob auch die Parteien einer neuen Regierung den Willen hätten, das Thema Obdachlosigkeit anzugehen – das wäre vielleicht mal ein Thema für eine kommende Talkshow.

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