Schon wieder Erdogan? Zum Glück bietet Maybrit Illners Talkrunde am Donnerstagabend mehr, als der Titel verspricht. Ein Gast sorgt für Zunder – und aufschlussreiche Zahlen bescheren Aha-Momente.

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Endlich hat es mal jemand ausgesprochen. "Ich möchte nicht immer Erdogan sagen, weil ich den Namen nicht mehr hören kann", sagte der Universitätsprofessor Ahmet Toprak und brachte das Studiopublikum zum Lachen. Schon wieder ging es bei Maybrit Illner um den türkischen Präsidenten, zum dritten Mal in den letzten vier Sendungen. Da kann sich schon mal ein leichter Überdruss einstellen.

Allerdings sorgte gerade Toprak dafür, dass der Talk am Donnerstagabend nicht auf dem Niveau seines Titels "Spaltet Erdogan das Land?" kleben blieb. Der Erziehungswissenschaftler der Fachhochschule Dortmund lieferte nüchterne wie überraschende Fakten auf, dampfte die auf allen Kanälen hysterisch geführte Diskussion mit ein paar Zahlen ein: Von den drei Millionen Türken in Deutschland dürfen 1,4 Millionen wählen, nur 40 Prozent tun das auch wirklich und stimmen zu 60 Prozent für die AKP ab – in totalen Zahlen sind das "nur" 300.000.

Illner schaute erstaunt, Toprak blieb lässig: "Ich verstehe die Aufregung auch nicht." Als der Experte wieder Platz genommen hatte, entspannte sich eine intensive Diskussion, ob und wie man "den Kampf um die Köpfe und Herzen der Deutschtürken" führen sollte, wie es Grünen-Spitzenkandidat Cem Özdemir formulierte. Und je weniger der türkische Präsident dabei eine Rolle spielte, umso interessanter wurde es.

Die anderen haben angefangen

Ob sich Illner mit der Einladung von AKP-Mann Mustafa Yeneroğlu einen Gefallen getan hat, darf bezweifelt werden. Der 42-jährige genießt einen zweifelhaften Ruf als Sprachrohr Erdogans in den deutschen Talkshows und fällt dabei schonmal aus dem Rahmen. Wie im vergangenen Sommer, als er ebenfalls bei Maybrit Illner drohte: "Wenn Sie mich jetzt nicht reden lassen, gehe ich." Gemessen daran verhielt sich Yeneroğlu wenigstens zu Beginn ruhig, wurde seiner Rolle aber gerecht.

Ausführlich beklagte er sich über die deutschen Medien, die stets über die falschen Dinge berichteten: nämlich über die Lage in der Türkei und nicht über die Demonstration von tausenden Kurden am Wochenende in Frankfurt, die "gar nicht hätte stattfinden dürfen." Die Nazi-Vergleiche des türkischen Präsidenten entschuldigte er mithilfe bewährter Kinderlogik: Die anderen haben angefangen: "Erdogan wird seit 2015 Diktator genannt."

Immer wieder musste Illner Yeneroğlu an das eigentliche Thema des Abends erinnern: An die Frage, warum so viele Deutschtürken für die AKP und Erdogans Pläne stimmen wollen – und sie sich nicht mit der deutschen Politik identifizieren.

Die türkischstämmige Autorin Canan Topcu berichtete eindrücklich von den Spannungen, die aus der Türkei in ihr Alltagsleben getragen werden. Mit den Nachbarn könne sie nicht mehr unbeschwert reden, am Telefon bekomme sie wegen Erdogan-kritischer Artikel anonyme Drohungen.

Die Ursache für die Sympathie vieler Deutschtürken für die AKP sieht sie in Versäumnissen bei der Integration. Darin war sie sich einig mit Cem Özdemir, Neuköllns Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) und dem Vorsitzenden der Jungen Union, Paul Ziemiak.

"Ein Pass allein führt nicht zu Integration"

Der Dissens entzündete sich an einem klassischen Henne-Ei-Problem: Kommt erst das Bekenntnis zum Staat oder erst der Pass? Paul Ziemiak, der ähnlich wie Fußballer Lukas Podolski als kleines Kind aus Polen nach Deutschland kam, forderte ein "Bekenntnis" zu Deutschland. "Erst kommt die Integration, und am Ende dieses Prozesses können die Menschen sich einen Pass wählen."

Cem Özdemir hielt das - wenig überraschend - für den falschen Weg: "Wir müssen doch dafür sorgen, dass hier geborene Kinder sofort Deutsche sind", sagte der Grünen-Spitzenkandidat, der eine Ausweitung des Wahlrechts auch für Nicht-EU-Ausländer ins Gespräch brachte.

"Ein deutscher Pass allein führt nicht zu Integration" , widersprach Franziska Giffey, in deren Multikulti-Bezirk Neukölln 40 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund haben. Die Menschen müssten sich wertgeschätzt fühlen, sagte die Bürgermeisterin, und erzählte von ihren Begegnungen mit fünfjährigen Kindergartenkindern: "Die sagen dann gleich, dass sie Araber sind oder Türken. Und ich frage die: Wo seid ihr denn geboren? – In Berlin." Damit diese Menschen sich als Teil dieses Landes fühlen, so Giffey, wäre es ein wichtiges Signal, wenn Politiker sagen, dass sie für alle da sind.

Der große Streit kommt zum Schluss

Yeneroğlu, der lange Zeit schweigend die Integrationsdebatte verfolgt hatte, sah seine Zeit noch gekommen. Als Illner die Frage in den Raum warf, warum sich die Hälfte der Deutschtürken nicht willkommen fühlt in Deutschland. Seine Antworten waren hart und unbequem: institutioneller Rassismus, Ausgrenzung von Muslimen, No-Go-Areas. Alles richtig, entgegnete die Autorin Topcu, aber: "Deutschland ist ein tolles Land, es gibt hier so viel mehr, als Ihr Staatspräsident sagt. Ich verstehe nicht, wie Menschen von Rechtsstaatlichkeit profitieren und Erdogan gut finden können."

Es ist der Moment, in dem die Runde kippt. Yeneroğlu schießt sich auf Topcu ein, die ihr lautestes Statement auf ihrem T-Shirt trägt: ein Konterfei des inhaftierten Journalisten Deniz Yücel. "Dumpfe Bemerkungen" und "Beleidigungen" will Yeneroğlu von ihr gehört haben, "Diffamierungen" von Özdemir, der lautstark protestiert.

Der besonnene Universitätsprofessor Ahmet Toprak, der leider nicht am Tisch, sondern nur als Experte im Publikum saß, hatte Yeneroğlu Verhalten ein paar Minuten zuvor als Opfertaktik bezeichnet. Das letzte Wort behielt Illner und es klang erleichtert: "Wir müssen leider zu Markus Lanz weitergeben."

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