Im Interview spricht DGB-Chef Reiner Hoffmann über die Errungenschaften und Versäumnisse der GroKo, über die Rolle der Gewerkschaften in Coronazeiten und über das alternative Digitalprogramm des DGB am 1. Mai. Er erklärt, warum er Missbrauch staatlicher Unterstützung fürchtet und was das Problem der SPD ist.

Ein Interview

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Reiner Hoffmann, geboren am 30. Mai 1955 in Wuppertal, ist seit Mai 2014 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Als Vertreter der sogenannten Sozialpartner ist er bei den Krisensitzungen der Politik dabei, wenn es darum geht, Entscheidungen in der Coronakrise zu treffen.

Im Interview mit unserer Redaktion spricht er über die Rolle der Gewerkschaften in Corona-Zeiten, über Errungenschaften und Versäumnisse der Politik, über die Schwierigkeit, in Pflegeberufen gewerkschaftliche Strukturen zu schaffen, die Probleme der SPD und über den 1. Mai 2020, an dem der DGB erstmals nicht auf der Straße, sondern nur im Netz aktiv sein wird. Außerdem kritisiert er das Verhalten von Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus scharf.

Herr Hoffmann, war die Coronakrise das Beste, was den Gewerkschaften hätte passieren können?

Reiner Hoffmann: Überhaupt nicht. Die Corona-Epidemie bringt uns alle in einen Ausnahmezustand, der verantwortliches Handeln aller Akteure abverlangt.

Die Krise hat aber immerhin dazu geführt, dass über die Rechte der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Deutschland plötzlich wieder eifrig diskutiert wird, oder nicht?

Sie haben insofern recht: Gerade in dieser Krise zeigt sich, wie wichtig Gewerkschaften sind bei der Gestaltung einer Arbeitswelt, die den Menschen Sicherheit und ordentliche Löhne garantiert. Die Heldinnen und Helden der Arbeit, die überall auf den Balkonen beklatscht werden, haben in der Regel so schlechte Arbeitsbedingungen und so schlechte Gehälter, weil ihre Arbeitgeber sich weigern, mit uns Tarifverträge abzuschließen. Dass das nun öffentlich erkennbar wird, ist natürlich auch eine Chance: Dass wir es nicht nur beim Klatschen belassen, sondern auch dafür sorgen, dass sie zukünftig ordentliche Tarifverträge bekommen. Die gesellschaftliche Akzeptanz dafür ist gestiegen, das ist sicherlich ein positives Ergebnis.

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Wie sehr schmerzt es Sie dann, dass es am 1. Mai 2020 zum ersten Mal seit der DGB-Gründung im Jahr 1949 keine Demonstrationen und Kundgebungen auf den Straßen geben wird?

Diese Entscheidung haben wir bereits vor vier Wochen getroffen. Sie ist uns überhaupt nicht leicht gefallen, aber sie zeigt die klare Verantwortung gegenüber der Gesundheit der Kolleginnen und Kollegen. Solidarität heißt in diesem Jahr: mit Anstand Abstand halten. Wir bekommen dafür breite Zustimmung in der Öffentlichkeit, insbesondere auch von Ihnen, den Medien. Wir nehmen daraus einen Digitalisierungsschub mit für den DGB, denn natürlich werden wir am 1. Mai trotzdem präsent sein.

Wie sieht Ihr digitales Alternativprogramm aus?

Wir werden auf unserer Homepage ab 11 Uhr live ein sehr buntes, lebendiges, schnelles Programm ausstrahlen. Mit vielen Stimmen von Kolleginnen und Kollegen, die ihre Forderungen platzieren, die ihr Verständnis von Solidarität zum Ausdruck bringen. Mit vielen Promis, die sich äußern werden. Mit kleineren, spannenden Diskussionsformaten. Mit vielen Künstlerinnen und Künstlern, die das Ganze kulturell begleiten und sehr attraktiv machen.

Sehen Sie unsere demokratischen Grundrechte in Gefahr durch die Beschränkungen und Maßnahmen in der Coronakrise?

Hier ist Vorsicht geboten! Die Exekutive ist zurzeit absolut im Fokus und hat rasch und ambitioniert vieles richtig gemacht. Das Außerkraftsetzen von Grundrechten kann immer nur Ultima Ratio sein, um gemeinsam die Verbreitung der Epidemie einzugrenzen und rasch zu überwinden. Was gar nicht geht: dass Arbeitgeber meinen, das sei eine Gelegenheit, um Arbeitnehmerrechte zu schleifen.

Tun sie das denn?

Ja. Ich halte es für eine grundverkehrte Entscheidung, dass das Arbeitszeitgesetz geöffnet wurde, um Arbeitszeiten von zwölf Stunden pro Tag zu ermöglichen und Ruhezeiten auf sieben Stunden zu reduzieren. Das ist unverantwortlich, denn es betrifft genau die Menschen, die aktuell als Heldinnen und Helden der Arbeit gelobt werden, aber einen verdammt harten Job machen. Denen nun auch noch die Arbeitszeit zu erhöhen, bedeutet ein erhebliches Gesundheitsrisiko. Deshalb ist es die völlig falsche Entscheidung.

Und was tun Sie als Gewerkschaft dagegen?

Wir haben dieses Problem ganz klar zum Ausdruck gebracht und immerhin drei wichtige Einschränkungen sichergestellt, wodurch hoffentlich die Inanspruchnahme dieser Öffnung des Arbeitszeitgesetzes gering sein wird. Erstens, dass arbeitsvertragliche Regelungen damit nicht außer Kraft gesetzt werden. Die Änderungen in den Arbeitszeitverordnungen gelten nicht für Tarifverträge, wo wir deutlich bessere Arbeitszeitbedingungen als im Gesetz haben. Zweitens sind die Mitbestimmungsrechte der Betriebs- und Personalräte damit nicht außer Kraft gesetzt. Das steht ausdrücklich in der Verordnung drin. Wenn Unternehmen also Arbeits- und Ruhezeiten verändern wollen, brauchen sie zwingend eine Verständigung mit der betrieblichen Interessensvertretung. Und drittens haben wir erreicht, dass diese Öffnung des Arbeitszeitgesetzes befristet bis Ende des Jahres gilt.

Sie sind in ständigem Kontakt mit den politischen Entscheidern. Wie genau läuft das ab?

Die Politik hat ein großes Interesse, von uns zu erfahren, was notwendig ist, was richtig ist und wie wir gemeinsam den Ausnahmezustand überwinden können. Wir sind für die Politik ein essentieller Gesprächspartner, weil sie weiß, dass mit unserer Beteiligung die Regelungen viel passgenauer sind. Auch wenn wir uns manche Regelung anders vorgestellt haben, die im politischen Kräfte-Ranking unzureichend ausgestaltet worden sind.

An welche Regelung denken Sie?

Ich halte es für einen extremen Fehler, dass es aufgrund des Drucks der Union nicht gelungen ist, das Kurzarbeitergeld ab dem ersten Tag auf 80 Prozent anzuheben. Weil wir wissen, dass Menschen, die einen Einkommensverlust von bis zu 40 Prozent im Monat hinnehmen müssen, nicht über die Runden kommen, wenn es darum geht, ihre laufenden Kosten zu zahlen – sei es die Miete, Gas, Wasser, Strom oder Ratenzahlung eines Kredits. Das kann zu sozialen Verwerfungen führen, die wir alle nicht wollen. Es ist auch ökonomisch völlig unklug, denn es wirkt sich nachteilig auf die Nachfrage und die Binnenkonjunktur aus. Gerade diejenigen Beschäftigten sind betroffen, die keine großen Sparguthaben anlegen können, sondern deren Einkommen direkt in den Konsum geht. Das kann krisenverschärfend wirken.

Warum konnten Sie dem Druck der Union nichts entgegensetzen?

Weil der Fraktionsvorsitzende der Union im Deutschen Bundestag (Ralph Brinkhaus, Anm.d.Red.) sich von den Arbeitgebern hat treiben lassen und soziale Verantwortung ignoriert hat.

Kann in der Krise mit Konjunkturprogrammen wirklich allen geholfen werden oder muss man irgendwann sagen: "Tut uns leid, dafür gibt es kein Geld"?

Wir haben die milliardenschweren Rettungsprogramme für die Wirtschaft begrüßt, sie sind richtig. Nun treten wir in eine Phase ein, in der der behutsame Ausstieg aus dem Shutdown kommt und konjunkturelle Stützmaßnahmen notwendig werden. Hier muss es darum gehen, richtige Steuerungsanreize zu setzen, beispielsweise bei der Frage der Nachhaltigkeit. Der Klimawandel ist durch das Coronavirus ja nicht hinfällig geworden, sondern wird uns in den nächsten Jahrzehnten noch massiv beschäftigen. Konjunkturelle Maßnahmen müssen deshalb umweltverträglich sein und auch die soziale Balance sicherstellen.

Fürchten Sie Missbrauch staatlicher Unterstützung?

Was überhaupt nicht geht, ist, dass Unternehmen unter die Rettungsschirme flüchten und gleichzeitig meinen, weiterhin hohe Dividenden ausschütten zu müssen oder Managergehälter zu zahlen, die völlig disproportional sind zur Lage der Beschäftigten.

Finden Sie es gerecht, dass vor allem die Union die Lorbeeren für die Corona-Krisenbewältigung in Form von Zustimmung in Umfragen erntet?

Der Gerechtigkeitsbegriff ist da fehl am Platze. Es handelt sich auch nicht um ein neues Phänomen. Wir haben eine sehr selbstbewusste Kanzlerin, vor der ich großen Respekt habe. Das führt aber leider mit dazu, dass die Leistungen der großen Koalition, die insbesondere von den SPD-geführten Ministerien vorangetrieben wurden, völlig unterbelichtet sind. Das bedauere ich.

Was meinen Sie mit "unterbelichtet"?

Wenn ich mir anschaue, wie Hubertus Heil von der SPD bei der Anhebung des Kurzarbeitergeldes angetreten ist, war das außerordentlich ambitioniert und richtig. Dass die Union eine schnellere Anhebung des Kurzarbeitergeldes verhindert hat, ist ärgerlich. Ich befürchte, dass dieser erzielte Kompromiss am Ende der Union zugeschrieben und der SPD nachgesagt wird, sie habe ja nichts hinbekommen. Das wäre ein völlig falsches Bild.

Wie würden Sie den Zustand der SPD, dem traditionellen politischen Partner der Gewerkschaften, insgesamt beschreiben?

Die SPD befindet sich seit Jahren in einem außerordentlich kritischen Zustand. Trotzdem hat das Regierungshandeln in der großen Koalition und in den Ländern, in denen die SPD an der Regierung beteiligt ist, immerhin eines sichergestellt: dass die soziale Schieflage, die wir in Deutschland haben, nicht noch größer geworden ist. Ohne Sozialdemokratie wäre es deutlich schlechter um die soziale Balance bestellt.

Seit vielen Jahren sinken die Mitgliedszahlen, viele sehen in den Gewerkschaften eine Bremse auf dem Weg zu Fortschritt und Wachstum. Was entgegnen Sie Kritikern, die meinen, der DGB werde in den nächsten Jahren überhaupt nicht mehr gebraucht?

Absoluter Widerspruch! Auch das ist ein grundverkehrtes Zerrbild. Ohne die Gewerkschaften sähe dieses Land völlig anders aus. Die Tarifbindung ist leider in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen - weil sich die Arbeitgeber ihrer sozialen Verantwortung entziehen, die Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden verweigern und nicht bereit sind, für ordentliche Tariflöhne zu sorgen.

Was haben Gewerkschaften anzubieten?

Schauen Sie sich doch die Branchen an, in denen wir eine gute Tarifbindung haben. Hier wurden verdammt gute Lohnabschlüsse getätigt, es gibt vernünftige Arbeitsbedingungen und sehr attraktive Arbeitszeitregelungen. Dort sind die Löhne im Schnitt 20 bis 25 Prozent besser und die Wochenarbeitszeit vier bis fünf Stunden geringer als ohne Tarifvertrag. Dort haben die Menschen ein bis zwei Wochen mehr Urlaub. Das gilt immer noch für eine Mehrheit der Beschäftigten und wäre ohne die Gewerkschaften überhaupt nicht der Fall. Ich erinnere daran, dass es ohne uns keinen Mindestlohn gäbe. Wir waren es, die der großen Koalition Druck gemacht und erreicht haben, dass das Rentenniveau zumindest mal bei 48 Prozent stabilisiert wurde. Das ist doch nicht Nichts, sondern ganz beachtlich!

Also alles richtig gemacht?

Nein. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen kann uns überhaupt nicht zufriedenstellen, da stimme ich Ihnen zu. Wir haben heute noch knapp sechs Millionen Mitglieder - und wir sind alle unterwegs und bemüht, dass wir das Mitgliederpotenzial weiter ausschöpfen.

Wo liegt das Problem?

Die Zustimmung der Bevölkerung zu Gewerkschaften ist groß. Aber oft höre ich: "Die Gewerkschaften müssten aber mal dieses und jenes tun." Wenn ich dann zurückfrage, "Sind Sie denn Mitglied einer Gewerkschaft?", dann ist das leider häufig nicht der Fall. Aber Gewerkschaften sind Mitgliederorganisationen. Und aus einer stabilen Mitgliederschaft erwächst auch eine größere Handlungsmächtigkeit.

Die Coronakrise führt uns vor Augen, dass eine Krankenpflegerin vielleicht doch einen wichtigeren Beitrag zur Gesellschaft leistet als ein Automechatroniker. Für Sie ein Ansatzpunkt, um im Pflegebereich bessere gewerkschaftliche Strukturen zu schaffen?

Es ist nicht richtig, dass die einen wichtiger sind als die anderen. Das Problem ist, dass wir in dem Bereich der Pflege eben nicht so viele sozial verantwortliche Arbeitgeber haben wie beispielsweise in der Metall verarbeitenden Industrie. Dazu kommt ein strukturelles Problem: Klassische Industriebetriebe, wo 5.000 oder 10.000 Menschen auf einem Werksgelände arbeiten, können sich wesentlich besser solidarisch organisieren. Der Pflegebereich ist kleinteilig, die Betriebsgröße geht häufig nicht über 10 bis 30 oder 50 Beschäftigte hinaus, die Einrichtungen sind über das ganze Land verstreut. Dort ist die gewerkschaftliche Organisationsarbeit wesentlich anspruchsvoller.

Geht es auch ums Geld?

Ja, hinzu kommt, dass wir es im Pflegebereich häufig mit Teilzeitbeschäftigten und mit befristeten Arbeitsverträgen zu tun haben. Diese Menschen müssen jeden Euro dreimal umdrehen und überlegen sich natürlich, ob es dafür reicht, auch noch den Gewerkschaftsbeitrag zu bezahlen. Dafür habe ich durchaus Verständnis. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass es dort anständige Arbeitsverträge gibt, dass die Befristungspraxis aufhört, dass Menschen nicht zu Teilzeitarbeit gezwungen werden. Wenn sie das freiwillig tun – gerne! Aber häufig sind Frauen davon betroffen, die gerne längere Arbeitszeiten hätten, sie aber nicht bekommen. Den Menschen wird dieses Problem gerade in der Krise vor Augen geführt, daraus können wir Kraft für die Zukunft schöpfen. Einmalige Bonuszahlungen sind gut, langfristig brauchen die Menschen aber Tarifverträge mit ordentlichen Löhnen.

Um den Bogen zum Beginn unseres Gesprächs zu schlagen: Könnte die überstandene Coronakrise am Ende sich als heilsamer Schock für unsere Wirtschaft und die Arbeitswelt erweisen?

Ich glaube, wir haben alle Chancen, dass die richtigen Konsequenzen aus dieser Krise gezogen werden: Wir müssen eine soziale Balance herstellen, das gelingt am besten mit Tarifverträgen. Wir müssen Schluss machen mit der Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge. Der Mensch muss wieder im Mittelpunkt stehen, nicht die Profite der Unternehmen. Und wir müssen gemeinsam alles daran setzen, den Klimawandel zu bewältigen.

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