Die meisten Demonstranten waren am Samstag in Berlin friedlich. Aber eine große Gruppe aggressiver Demonstranten nutzte die Gelegenheit und stürmte bis vor den Eingang des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude. Politiker zeigten sich über die Szenen bestürzt.

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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Politiker fast aller Parteien haben das Vordringen von Demonstranten auf die Treppe des Reichstagsgebäudes in Berlin am Samstagabend scharf verurteilt. Steinmeier teilte am Sonntag mit: "Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie. Das werden wir niemals hinnehmen."

Er dankte den Polizisten, "die in schwieriger Lage äußerst besonnen gehandelt haben".

Eine große Gruppe aggressiver Demonstranten gegen die Corona-Politik hatte am Samstagabend Absperrgitter am Reichstagsgebäude in Berlin überwunden. Sie stürmten die Treppe hoch und bauten sich triumphierend vor dem verglasten Besuchereingang auf. Dabei waren auch die von den sogenannten Reichsbürgern verwendeten schwarz-weiß-roten Reichsflaggen zu sehen, aber auch andere Fahnen.

Anfangs standen nur drei Polizisten der grölenden Menge entgegen. Nach einer Weile kam Verstärkung, und die Polizei drängte die Menschen auch mit Hilfe von Pfefferspray zurück.

Angriffe auf Polizisten

Zuvor hatten nach Schätzungen der Polizei knapp 40.000 Menschen aus ganz Deutschland weitgehend friedlich gegen die Corona-Politik demonstriert. Am Rande kam es allerdings vor allem vor der russischen Botschaft nahe dem Brandenburger Tor zu Angriffen von Reichsbürgern und Rechtsextremisten auf Polizisten. Aus einer Menge von 3000 Menschen wurden Steine und Flaschen geworfen.

Bundespräsident Steinmeier betonte: "Unsere Demokratie lebt." Wer sich über die Corona-Maßnahmen ärgere oder ihre Notwendigkeit anzweifele, könne das tun, auch öffentlich, auch in Demonstrationen. "Mein Verständnis endet da, wo Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen."

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Nach diesen Szenen sollte der Letzte verstanden haben, dass es auch Grenzen des Anstands gibt, wie weit man mitträgt, wer mit einem mitläuft. Der Verantwortung, sich bei seinem Protest nicht von Extremisten instrumentalisieren zu lassen, kann sich niemand entziehen.» Dass es überhaupt zu diesem Angriff kommen konnte, "muss schnell und umfassend aufgearbeitet werden".

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte in der «Bild am Sonntag": "Das Reichstagsgebäude ist die Wirkungsstätte unseres Parlaments und damit das symbolische Zentrum unserer freiheitlichen Demokratie. Dass Chaoten und Extremisten es für ihre Zwecke missbrauchen, ist unerträglich."

Außenminister Heiko Maas (SPD) twitterte: "Reichsflaggen vorm Parlament sind beschämend."

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz schrieb: "Nazisymbole, Reichsbürger- & Kaiserreichflaggen haben vor dem Deutschen Bundestag rein gar nichts verloren." SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagte, der Ältestenrat des Bundestages müsse klären, "wie Sicherheitskonzepte ausgesehen haben".

Rechte Szene jubelt

Der Initiator der großen Demonstration, Michael Ballweg von der Stuttgarter Initiative Querdenken, distanzierte sich von den Randalierern. "Die haben mit unserer Bewegung nichts zu tun." Querdenken sei eine friedliche und demokratische Bewegung, Gewalt habe da keinen Platz.

Er verstehe aber nicht, warum der Berliner Innensenator "nicht entsprechende Polizeikräfte aufwartet, um solchen Aktionen zu begegnen" - zumal diese vorher bekannt gewesen seien, meinte Ballweg. "Warum ist er nicht in der Lage, das Gebäude zu schützen?"

Videos, die im Internet kursieren, zeigen, wie weit mehr als hundert jubelnder und grölender Menschen minutenlang auf und oberhalb der großen Treppe direkt vor der Tür des Reichstags stehen. Neben der Reichsfahne sind auch deutsche, amerikanische und russische Fahnen sowie Transparente zu sehen.

Drei Polizisten versuchen, die Menge mit dem Schwenken von Schlagstöcken auf Abstand zu halten. Im Hintergrund ruft ein Mann: "Wir sind friedlich, wir sind friedlich." Ein anderer Mann schreit ständig: "Wahnsinn, Wahnsinn."

Der Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz versuchte noch am Abend eine Erklärung: "Wir können nicht immer überall präsent sein, genau diese Lücke wurde genutzt, um hier die Absperrung zu übersteigen, zu durchbrechen, um dann auf die Treppe vor dem Reichstag zu kommen."

Die rechte und rechtsextreme Szene hatte allerdings bereits seit Tagen zum "Sturm auf Berlin" und den Reichstag aufgerufen. Zumindest ein Versuch, diese Ankündigung auch umzusetzen, war erwartbar gewesen. Eine umfassende Bilanz der Polizei zu der Demonstration am Samstag soll im Lauf des Sonntags veröffentlicht werden.

Attila Hildmann festgenommen

Protest gegen Corona-Maßnahmen Berlin
Die Polizei nimmt Vegan-Koch Attila Hildmann in Gewahrsam bei einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen. © Kay Nietfeld/dpa

Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte am Samstagabend berichtet, über den Tag verteilt seien rund 300 Menschen festgenommen worden, allein bei den Angriffen vor der russischen Botschaft etwa 200. Geisel bezeichnete die Ereignisse als vorhersehbar. "Es war erwartbar, was heute passiert ist", sagte er am Samstagabend in den ARD-"Tagesthemen".

Die Polizei war mit rund 3000 Beamten aus verschiedenen Bundesländern und von der Bundespolizei im Einsatz. Festgenommen wurde vor der russischen Botschaft auch der Vegan-Kochbuchautor Attila Hildmann, der sich selbst "ultrarechts" und einen Verschwörungsprediger nennt.

Nachdem die Polizei ursprünglich die Demonstrationen verboten hatte, gaben erst Gerichte die Erlaubnis. Den ersten Demonstrationszug am Samstagmittag ließ die Polizei nicht starten, weil die Mindestabstände zum Infektionsschutz nicht eingehalten wurden.

Nachmittags konnten aber Zehntausende Menschen auf der Straße des 17. Juni im Tiergarten demonstrieren. Zu sehen war eine breite Mischung von Bürgern, darunter Junge und Alte sowie auch Familien mit Kindern. Auf Transparenten forderten sie den Rücktritt der Bundesregierung sowie ein Ende der Schutzauflagen und Alltagsbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie. Immer wieder skandierte die Menge "Widerstand" und "Wir sind das Volk". (dpa/mf)

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