Sahra Wagenknecht sondiert seit Monaten die Gründung einer neuen Partei. Hat das Land darauf gewartet? Zwei unterschiedliche Meinungen aus unserer Redaktion.

Meine Meinung
Dieser Meinungsbeitrag stellt die Sicht von Joshua Schultheis und Fabian Busch dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Die ersten Schritte sind möglicherweise schon erfolgt. Recherchen des Magazins "Stern" (Bezahlinhalt) zufolge haben Unterstützer von Sahra Wagenknecht einen Verein namens "BSW – Für Vernunft und Gerechtigkeit" gegründet. Aus ihm könnte eine neue Partei mit der Noch-Linken-Politikerin an der Spitze hervorgehen.

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Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen haben einmal mehr gezeigt, dass das Parteiensystem in Bewegung ist. Die AfD hat erneut deutlich hinzugewonnen. Den Aufstieg der in Teilen rechtsextremen Partei zu stoppen, ist ein Ziel von Sahra Wagenknecht. Braucht das Land BSW oder wie immer ihre Partei heißen würde?

Pro: Eine Wagenknecht-Partei wäre gut für Deutschland

Von Joshua Schultheis

So kritikwürdig Sahra Wagenknechts Ansichten sein mögen. In einem Punkt hat sie absolut recht: Es gibt im deutschen Parteiensystem eine Repräsentationslücke. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger fühlen sich von keiner politischen Kraft vertreten – und erwägen, der AfD ihre Stimme zu geben. Der in weiten Teilen rechtsextremen Partei könnte eine Wagenknecht-Neugründung empfindliche Verluste zufügen. Für unsere Demokratie wäre das gut.

Umfragen zeigen, dass viele Deutsche eine Partei der linken Politikerin wählen würden. Sie haben den Eindruck, dass die Parteien der Mitte Politik nur für Wohlhabende und gut Gebildete machen. Sie verlieren durch stagnierende Löhne und steigende Inflation an Wohlstand und fürchten um ihre ökonomische Sicherheit. Und ja, sie wünschen sich mehr Zurückhaltung der Bundesrepublik im Ukraine-Krieg, stehen Migration eher ablehnend gegenüber und fühlen sich von einer zunehmenden Liberalisierung der Gesellschaft gestört.

Derzeit werden diese enttäuschten und verunsicherten Wähler vor allem von der Alternative für Deutschland abgeholt. Die Rechtspopulisten setzen dabei auf Ressentiments gegen Fremde, sexuelle Minderheiten, Klimaaktivisten und Linke. Zudem verharmlosen ihre Spitzenpolitiker immer wieder die nationalsozialistischen Verbrechen.

Auch Sahra Wagenknecht bedient die Klaviatur des Kulturkampfes und verwendet populistische Rhetorik. Gegenüber einem Björn Höcke, dessen Thüringen-AfD vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird, ist sie aber gemäßigt. Nicht zufällig hat Höcke Anfang des Jahres Sahra Wagenknecht die AfD-Mitgliedschaft angetragen. Er ahnt: Eine populistische Konkurrenzpartei von links könnte ihm und der AfD gefährlich werden.

Selbst in Wagenknechts Noch-Partei wünschen sich nicht wenige ihren baldigen Abgang. Die übriggebliebene Linke könnte dann endlich nach vorne blicken, sagen sie. Die Gründung einer neuen links-populistischen Kraft mit gesellschaftspolitisch konservativer Ausrichtung wäre also gleich in doppelter Hinsicht eine begrüßenswerte Nachricht: Sowohl links als auch rechts im politischen Spektrum würde sie für klarere Verhältnisse sorgen. Für die Bundesrepublik wäre das eine positive Entwicklung.

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Contra: Deutschland braucht nicht noch eine Partei

Von Fabian Busch

Bitte nicht. Bitte nicht noch eine Partei, die die Mehrheitsfindung in den Landtagen oder im Bundestag noch schwieriger macht. Bitte keine Partei, deren Fundament nur aus einer Person besteht. Das Erstarken der AfD ist zweifellos eine Herausforderung für die an politische Stabilität gewöhnte Bundesrepublik. Die Rolle des rettenden Engels wäre für eine Einzelperson aber eine Nummer zu groß.

Eine One-Woman-Show namens Sahra-Wagenknecht-Partei würde Wagenknechts schillernder Karriere vielleicht die Krone aufsetzen. Aber was gut für sie ist, muss nicht gut für das Land sein.

Deutschland bräuchte eine zusätzliche Partei nur dann, wenn diese ein neues Thema artikuliert, wenn sie in einem gesellschaftlichen Konflikt eine Position besetzt, die keine andere politische Kraft einnimmt. Das wäre bei einer Sahra-Wagenknecht-Partei aber nicht der Fall.

Ihre Gassenhauer lauten: mehr soziale Sicherung, mehr Verständnis für Russland, weniger Zuwanderung, weniger Gendersprache. Diese Forderungen finden Wählerinnen und Wähler auch in den Programmen anderer Parteien. Vielleicht nicht in dieser Kombination. Aber die eine Partei, die in allen Fragen perfekt zu den eigenen Werten und Einstellungen passt, gibt es ohnehin für fast niemanden.

Sahra Wagenknecht.

Umfrage: Etwa jeder Fünfte würde Wagenknecht-Partei wählen

Seit dem Partei-Debakel zwischen Sahra Wagenknecht und der Linken denkt die Politikerin über die Gründung einer eigenen Partei nach. Laut einer Meinungsumfrage gibt es ein hohes Wählerpotenzial für eine neue Partei unter ihrer Führung. (Photocredit: imago images)

Als Linken-Fraktionsvorsitzende hat Wagenknecht die mühsame Arbeit hinter den Kulissen vernachlässigt. Talkshow-Auftritte waren ihr offenbar wichtiger als der Maschinenraum der Politik. Sie hat ihre Karriere in erster Linie auf dem beißenden Spott gegenüber anderen politischen Meinungen begründet und nie gezeigt, wie sie es besser machen will. Mit ihrer monatelangen Hängepartie – geht sie oder geht sie nicht – hat sie die Krise ihrer Noch-Partei, der Linken, verschärft. Ob eine solche Einzelkämpferin nun die Richtige ist, eine neue Partei zu gründen und zu etablieren? Wohl kaum.

Gewisse Qualitäten hat Sahra Wagenknecht zweifellos: Sie besitzt rhetorisches Talent und die Fähigkeit, Menschen mitzunehmen. Diese Gabe sollte sie nutzen, um die zunehmend zerrissene Gesellschaft zusammenzuführen, statt sie mit einer zusätzlichen Partei weiter zu zerteilen.

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