• Bei den gesetzlichen Krankenkassen klafft eine Finanzierungslücke.
  • Die Politik könnte deshalb eines ihrer Versprechen in der Pandemie brechen.
  • Das liegt nicht nur an Corona, sondern auch an einem großzügigen Minister.
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Tsunamis gehören zu den gefährlichsten Naturkatastrophen der Welt. Auf offener See entwickeln sich die Flutwellen meist unbemerkt. Haben die Wellen die Küste jedoch einmal erreicht, dann türmen sich die Wassermassen meterhoch auf. Ihre Wucht kann ganze Städte zerstören.

Insofern waren es verhältnismäßig dramatische Worte, die Andreas Storm, Chef der Krankenkasse DAK, im März wählte, um auf die klamme Situation der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland aufmerksam zu machen: Die Institute stünden vor einem "regelrechten Beitragstsunami", weil sich die Finanzreserven dem Ende zuneigten. Wenn der Bund nicht zeitnah mit viel Geld aushelfe, werde es teuer – für die Versicherten. In einem Jahr mit sechs Landtagswahlen und einer Bundestagswahl ist das für die verantwortlichen Politiker und Politikerinnen keine gute Nachricht.

"Am Ende des Tages werden die Versicherten über steigende Zusatzbeitragssätze belastet werden"

Ganz neu ist sie allerdings auch nicht. Schon länger warnen die Krankenkassen davor, dass sie auf ein massives Defizit zulaufen, das – Stand jetzt – rund 19 Milliarden Euro beträgt. Erst in diesem Jahr hatte die Regierung deshalb den Zuschuss des Bundes in den Gesundheitsfonds, aus dem die Kassen ihre Mittel beziehen, von 14,5 auf 19,5 Milliarden Euro erhöht.

Darüber hinaus, so hatten sich Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nach zähen Verhandlungen verständigt, soll es einen einmaligen Zuschuss von sieben Milliarden Euro für das kommende Jahr geben. Es ist vermutlich der letzte Versuch vor der Bundestagswahl, Beitragserhöhungen vorerst auszuschließen. Doch reicht er aus?

Fragt man die Kassen, so lautet die Antwort: nein. Auch mit den jetzt beschlossenen Mitteln dürften die Zusatzbeiträge, mit denen die Institute finanzielle Engpässe ausgleichen dürfen, im kommenden Jahr steigen. Experten prognostizieren, dass der Wert um 0,8 Prozentpunkte steigen könnte. Derzeit liegt er je nach Krankenkasse zwischen 0,4 und 1,6 Prozent und wird jeweils zur Hälfte von Arbeitnehmer und Arbeitgeber bezahlt.

"Am Ende des Tages werden die Versicherten über steigende Zusatzbeitragssätze belastet werden, sollte der Bund seinen Zuschuss für das Jahr 2022 nicht erhöhen", heißt es dazu in einer Stellungnahme des BKK Dachverbandes, der Interessensvertretung der betrieblichen Krankenkassen.

Regierung wird sich wohl nicht an Versprechen halten

Diese Nachricht ist politisch deshalb brisant, weil die Regierung eines ihrer zentralen Versprechen in der Corona-Pandemie brechen könnte. Bis Ende des Jahres hat die Koalition die Sozialabgaben auf 40 Prozent gedeckelt, die Union will diese "Sozialgarantie" sogar dauerhaft festschreiben.

Da der Wert bereits jetzt bei 39,95 Prozent liegt, wäre die Zusage aber kaum zu halten, wenn das Defizit von 19 Milliarden Euro ausschließlich mit höheren Beitragssätzen gestemmt werden müsste.

Es ist darum durchaus bemerkenswert, dass Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Scholz, der im Wahlkampf für einen großzügigeren Sozialstaat kämpft, Spahns Anliegen auf zusätzliche Mittel in Höhe von 12,5 Milliarden Euro zunächst abgelehnt hatte. Der nun gefundene Kompromiss von sieben Milliarden Euro gilt als reine Notlösung.

Spahn wird Reihe an Sanierungsfällen hinterlassen

Blickt man auf die Gründe für die klamme Lage bei den Kassen, wird Scholz‘ Haltung jedoch verständlicher. Spahn, der vor seiner Zeit als Gesundheitsminister Finanzstaatssekretär war, gilt als alles – nur nicht als guter Haushälter.

Der Minister habe, so heißt es, bei seinem Antritt vor vier Jahren gut bestellte Kassen übernommen und werde nach der Bundestagswahl im September eine Reihe von Sanierungsfällen hinterlassen. Grund dafür seien kostspielige Reformen wie ein Gesetz aus dem Bundesgesundheitsministerium, das Patientinnen und Patienten zu schnelleren Arztterminen verhelfen soll und nach Schätzungen von Krankenkassenkreisen rund 4,5 Milliarden Euro kostet, weil Ärzte mehr Geld bekommen. Auch Spahns Pflegereform, die unter anderem mehr Geld für Pflegekräfte vorsieht, koste mindestens 2,5 Milliarden Euro.

Insgesamt, so rechnet die Techniker Krankenkasse, schlagen Spahns Gesetze der vergangenen Jahre mit insgesamt 14 Milliarden Euro zu Buche. Keine geringe Summe, setzt man sie ins Verhältnis zum Gesamtetat seines Ministeriums von 24 Milliarden Euro für dieses Jahr.

Wofür Spahn allerdings nichts kann, das sind die zusätzlichen Kosten, die die Corona-Pandemie verursacht hat, etwa durch den Aufbau von Intensivkapazitäten oder den Kauf von Schutzkleidung. Damit seien jedoch maximal 20 Prozent der Lücke zu erklären, schätzen die Krankenkassen. Andere glauben sogar, dass die Corona-Pandemie entlastend gewirkt hat: "Die pandemiebedingten Effekte im Bereich der Ausgaben, wie zum Beispiel eine geringere Inanspruchnahme von Krankenhausleistungen, haben insgesamt zu einem Rückgang um rund 2,5 Milliarden Euro geführt und dürften damit die Finanzsituation sogar entlastet haben", heißt es vom BKK.

Verwendete Quellen:

  • Stellungnahme des BKK Dachverband e.V.
  • Stellungnahme des Bundesfinanzministeriums
  • Ärztezeitung - So teuer kommen Spahns Gesetze

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