Von vielen Menschen wird das Coronavirus noch immer verharmlost, trotz Zehntausender Tote in ganz Europa. Ein Vergleich mit den vergangenen Jahren zeigt aber, wie drastisch die Sterbefallzahlen in etlichen Ländern angestiegen sind – darunter auch in Schweden.

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Die Coronavirus-Pandemie hat Europa fest im Griff. Der Kontinent befinde sich "im Auge des Sturms", erklärte der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge, vergangene Woche.

Denn trotz massiver Einschränkungen des öffentlichen Lebens in vielen Ländern ist die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus europaweit mittlerweile auf mehr als 100.000 gestiegen.

Neue Zahlen zeigen nun, wie stark die Ausschläge in den Sterbefallzahlen im Vergleich zu den vergangenen Jahren tatsächlich sind. Wie viele Menschen mehr als sonst wegen der Corona-Pandemie gestorben sind, unterscheidet sich von Land zu Land. Die Differenzen sind teils erheblich, Deutschland bildet in Westeuropa eine der wenigen Ausnahmen.

Wo es eine sogenannte Übersterblichkeit, also Zunahmen von den durchschnittlichen Sterbefallzahlen, gibt, zeigt unsere Übersicht.

Coronakrise in Italien

Die meisten Todesopfer in Europa wurden aus Italien gemeldet. Dort starben bis dato mehr als 24.648 Infizierte, weltweit liegt diese Zahl nur in den USA höher.

Viele italienische Ärzte gehen jedoch davon aus, dass die Statistik zu den Infektions- und Todesfällen unvollständig ist. Offiziell erfasst werden nur die Todesfälle in Krankenhäusern; Menschen, die zu Hause oder in Pflegeheimen an der vom Virus verursachten Lungenkrankheit COVID-19 sterben, sind in der Statistik nicht aufgeführt.

Italiens Statistikbehörde Istat vermeldete dennoch am 16. April, dass sie im Zeitraum vom 1. März bis 4. April 2020 landesweit einen Anstieg aller Todesfälle um mindestens 20 Prozent gegenüber dem Durchschnittswert des gleichen Zeitraums der vergangenen fünf Jahre verzeichnet habe.

Wie in den anderen untersuchten Ländern auch, umfassen diese Zahlen neben Corona-Toten ebenso Todesfälle aus anderen Gründen. Darunter sind vermutlich auch Verstorbene, die wegen überforderter Ärzte in überfüllten Kliniken nicht (richtig) behandelt werden konnten. Fakt ist jedoch: Gerade in den Corona-Hotspots, wie etwa der norditalienischen Stadt Bergamo, sind die Todesraten im Vergleich zu normalen Zeiten teils extrem in die Höhe geschnellt.

Todeszahlen in Spanien

In Europa am zweitstärksten betroffen ist Spanien. Zuletzt sanken dort die Zahlen der neuen Corona-Todesfälle teils deutlich: Am Dienstag lag die Zahl bei 399 – zu den Hochzeiten der Infektionswelle in Spanien Anfang April waren an einem Tag 950 Todesfälle registriert worden. Mit den neuen Todesfällen stieg die Zahl der Menschen, die an COVID-19 starben, dennoch auf 21.717.

Überschattet wurde die offenbar positive Entwicklung von einem Streit um die Opferzahlen: Um die Statistiken der verschiedenen Regionen zu vereinheitlichen, erfasst das Gesundheitsministerium nur noch die Todesfälle positiv getesteter Patienten. Mehrere Regionen kritisieren, dass Tausende Todesfälle auf diese Weise nicht in der nationalen Statistik auftauchten.

Die Gesamtzahlen aller Verstorbenen in Spanien gibt daher womöglich ein aussagekräftigeres Bild: Wie die "New York Times" berechnete, starben in Spanien im Zeitraum vom 9. März bis zum 5. April 66 Prozent mehr Menschen als im langjährigen Durchschnitt der vergangenen Jahre.

Diese Bild deckt sich mit den Sterblichkeitsschätzungen des European Mortality Monitoring Project (kurz EuroMOMO), einem Zusammenschluss von europaweit 29 Forschungsinstituten, darunter in Deutschland das Robert-Koch-Institut (RKI) und das hessische Zentrum für Gesundheitsschutz.

Die Daten des Netzwerks "zeigen weiterhin einen deutlichen Anstieg der überhöhten Gesamtmortalität in den teilnehmenden europäischen Ländern, der mit der aktuellen globalen COVID-19-Pandemie zusammenfällt", heißt es auf der Webseite von EuroMOMO. Diese Gesamtübersterblichkeit sei in einigen Ländern, darunter Spanien und Italien, auf eine "sehr starke Übersterblichkeit" zurückzuführen.

Übersterblichkeit in Frankreich?

Aus Frankreich sind am Dienstagabend 531 neue Corona-Todesopfer binnen der vergangenen 24 Stunden gemeldet worden. Die Zahl der im Zusammenhang mit der Lungenkrankheit COVID-19 gestorbenen Patienten liege nunmehr bei 20.769, teilten die französischen Gesundheitsbehörden in Paris mit.

Der Generaldirektor für Gesundheit, Jérôme Salomon, verwies auf den positiven Trend, dass die Zahl der Corona-Infizierten in Krankenhäusern und in intensivmedizinischer Behandlung weiterhin langsam sinke.

Wie in den anderen beiden südeuropäischen Ländern gibt es aber auch in Frankreich eine Übersterblichkeit, wie die Grafiken von EuroMOMO zeigen. Und laut "New York Times" starben im Zeitraum vom 9. März bis zum 5. April 21 Prozent mehr Menschen als in den vergangenen beiden Jahren. "In Paris sind jeden Tag mehr als doppelt so viele Menschen gestorben wie sonst üblich, weit mehr als zum Höhepunkt einer Grippesaison", heißt es in der US-Tageszeitung.

Sterblichkeitszahlen für Deutschland

In Deutschland sind zwar fast so viele Menschen wie im Nachbarland Frankreich positiv auf das Coronavirus getestet worden. Doch mit 5.086 beträgt die Zahl der Todesfälle nur etwa ein Viertel. Wie viele Menschen mehr als sonst wegen der Corona-Pandemie sterben, lässt sich für Deutschland bislang aber nur schwer beziffern.

Das zeigen Anfragen der Deutschen Presse-Agentur in den Bundesländern: Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, die besonders hohe Infiziertenzahlen melden, liegen nach eigenen Angaben bislang keine aktuellen Daten dazu vor. Auch das Statistische Bundesamt hat bislang keine aktuellen Zahlen veröffentlicht. Zumindest bis Mitte März gebe es keine erhöhten Sterbefallzahlen.

Anders als bei vielen anderen EU-Staaten zeigen auch die EuroMOMO-Daten für die Bundesrepublik bisher keinen auffälligen Aufschlag – was auch an den vergleichsweise wenigen Corona-Toten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung liegen kann.

RKI-Präsident Lothar Wieler hält zudem die Todesfallzahlen in Deutschland für unterschätzt. Nicht jeder Gestorbene sei zuvor getestet worden, sagte er. "Ich gehe davon aus, dass wir mehr Tote haben als offiziell gezählt werden." So würden in Niedersachsen zu Hause oder in Heimen verstorbene Menschen beziehungsweise Risikopatienten nicht nachträglich auf COVID-19 getestet, teilte etwa das Landesgesundheitsamt in Hannover mit.

Großbritannien in der Coronakrise

Großbritannien ist eines der am schwersten vom Virus betroffenen Länder Europas. Bis Dienstag sind laut dem dortigen Gesundheitsministerium nachweislich 17.337 Menschen an COVID-19 gestorben.

In England und Wales waren Anfang April so viele Todesfälle innerhalb einer Woche registriert worden wie seit 20 Jahren nicht mehr. Das geht aus Zahlen der britischen Statistikbehörde ONS hervor, die am Dienstag veröffentlicht wurden.

Demnach wurden in der Woche bis zum 10. April 18.516 Sterbefälle verzeichnet. Das sind knapp 8.000 Todesfälle mehr als im Durchschnitt des Vergleichszeitraums der vergangenen fünf Jahre. Etwa 6.200 der Verstorbenen waren zuvor positiv auf das Coronavirus getestet worden.

USA haben jetzt mehr COVID-19-Tote als Italien

Die USA haben laut aktueller Zahlen der John-Hopkins-Universität in absoluten Zahlen weltweit die meisten Toten durch die Corona-Epidemie zu verzeichnen. © ProSiebenSat.1

Erhebungen der "New York Times" zufolge starben vom 7. März bis 10. April 33 Prozent mehr Menschen in den beiden britischen Landesteilen als im Durchschnitt der Jahre 2010 bis 2019.

Auch in Großbritannien gibt es Kritik an den Statistiken der Regierung, die nur Todesfälle in Krankenhäusern erfasst. Wer zu Hause oder im Heim an COVID-19 stirbt, wird nicht registriert. Am Samstag veröffentlichte Schätzungen des britischen Branchenverbands der Pflegeheime zufolge könnten allein in diesen Einrichtungen zwischen 4.000 und 7.500 Menschen durch eine Corona-Infektion gestorben sein.

Und laut einer aktuellen Berechnung der "Financial Times" auf Basis der ONS-Zahlen könnten insgesamt sogar rund 41.000 Menschen - und damit doppelt so viele wie offiziell angegeben - nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 gestorben sein. Die Zahl ergibt sich aus den 8.000 zusätzlich Verstorbenen hochgerechnet bis zum 21. April - unter der Annahme, dass das Verhältnis zwischen der Übersterblichkeit und der aus Krankenhäusern gemeldeten Todesfälle gleich geblieben ist.

Schweden mit einem Sonderweg

Der schwedische Sonderweg in der Bekämpfung des Coronavirus – so sind beispielsweise noch Veranstaltungen mit bis zu 50 Besuchern erlaubt – hat einen hohen Preis: 1.765 Menschen starben der schwedischen Gesundheitsbehörde zufolge bislang infolge einer Infektion mit SARS-CoV-2. Das ist um ein Vielfaches mehr als in den anderen skandinavischen Ländern. Erst in den vergangenen Tagen war die Zahl der gemeldeten Toten in die Höhe geschnellt.

Auch generell ist in Schweden eine Übersterblichkeit zu beobachten. Das EuroMOMO-Projekt zeigt eine Erhöhung, die "New York Times" beziffert den Anstieg im Zeitraum vom 9. März bis 12. April auf 12 Prozent zum Vergleichszeitraum 2015 bis 2019.

Belgien beklagt viele Corona-Tote im Verhältnis zur Einwohnerzahl

Weltweit muss kein anderes Land so viele Corona-Tote im Verhältnis zur Einwohnerzahl beklagen wie Belgien. Bisher starben dort offiziellen Angaben zufolge 6.262 Menschen an COVID-19. In dem Land gab es vom 9. März bis zum 5. April im Vergleich zu den vergangenen fünf Jahren 25 Prozent mehr Tote, wie die "New York Times" ermittelte.

Nach eigenen Angaben ist die belgische Regierung auf "maximale Transparenz" aus: In den 1.500 Altersheimen des Landes wird jeder Todesfall gezählt, bei denen ein Zusammenhang mit dem Coronavirus vermutet wird, ohne dass dies unbedingt durch einen Test nachgewiesen wurde.

Leichte Hoffnung in den Niederlanden

Die Zahlen bei COVID-19-Erkrankten und Corona-Infektionen seien zwar hoffnungsvoll, sagte der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte am Dienstagabend. Der Druck auf das Gesundheitssystem bleibe aber "gigantisch groß". Im Nachbarland starben bisher 3.916 infizierte Menschen.

Auch die Übersterblichkeit ist laut "New York Times" erheblich: plus 33 Prozent im Zeitraum vom 9. März bis 5. April im Vergleich zum langjährigen wöchentlichen Mittel aus den Jahren 1995 bis 2019.

Mit Material von afp und dpa
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