Das Coronavirus breitet sich auch in Brasilien rasant aus. Bislang gibt es 10.300 registrierte Fälle, die wahren Fallzahlen dürften jedoch weit höher liegen, da es dem Land an Tests mangelt. Präsident Jair Bolsonaro verharmlost die Krise und seine Politik findet immer weniger Anklang in der Bevölkerung.

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Nun erwischt das Coronavirus (hier geht es zum Live-Ticker) auch Brasilien mit voller Wucht. Mehr als 10.300 registrierte Fälle verzeichnete die US-amerikanische Johns Hopkins Universität am Sonntag. Die wahren Fallzahlen dürften jedoch weit höher liegen. Denn in Brasilien, wie auch in vielen anderen Ländern, mangelt es an Tests – und auch an Material, Schutzmasken, Beatmungsgeräten, Intensivbetten. Die Katastrophe scheint ihren Lauf zu nehmen.

Und inmitten der Gesundheitskrise steht mit Jair Bolsonaro ein Präsident, der die Tragweite der Pandemie noch immer nicht verstanden zu haben scheint. Denn noch immer fordert er, Brasilien müsse zur Normalität zurückkehren. Eine Meinung, mit der er ziemlich alleine dasteht.

Rufe nach einem Rücktritt Bolsonaros werden laut

Der Präsident und seine Söhne haben sich gewissermaßen in die Opposition begeben. Rufe nach Rücktritten werden laut, das Militär soll schon intern mögliche Szenarien durchgespielt haben, wie es ohne Präsident Bolsonaro weitergehen könnte. Die Zukunft Bolsonaros steht nach nicht einmal anderthalb Jahren im Amt auf der Kippe.

Sohn Eduardo trug seinen Teil dazu bei, die Situation zu verschärfen. Was als Ablenkungsmanöver gedacht war, dürfte sich nun als tödliche Hitzköpfigkeit entpuppen: Eduardo Bolsonaros Schimpftirade gegen China.

Bolsonaros Sohn, als quasi inoffizieller Außenminister bei allen wichtigen Reisen des Vaters dabei, hatte sich mit China angelegt, Brasiliens wichtigstem Handelspartner. Inzwischen weiß man: Der Streit hatte dazu geführt, dass China ursprünglich für Brasilien gedachtes und dringend benötigtes medizinisches Hilfsmaterial an die USA verkaufte.

Angesichts steigender Fallzahlen und Toter scheint auch Bolsonaros Taktik des Herunterspielens und Verharmlosens in der Bevölkerung immer weniger zu ziehen. Der Rückhalt in der Bevölkerung bröckelt. Die Zustimmungswerte für seine Politik sinken.

Bürger rufen: "Bolsonaro, Mörder"

Über Wochen hinweg versammelten sich jeden Abend gegen 20.30 Uhr die Brasilianer an den Fenstern zu einer so genannten panelação. Sie schlugen Töpfe und Pfannen zusammen, riefen "Bolsonaro raus". Nach wenigen Tagen wurde der Ton schärfer, es kamen "Bolsonaro, Mörder" oder "Bolsonaro Genozid" hinzu.

In vielen Bundesstaaten und den wichtigsten Städten Sao Paulo und Rio de Janeiro gilt nun seit einigen Tagen eine strikte Ausgangsbeschränkung. Die wurde aber nicht von der Bundesregierung Bolsonaros, sondern von den Gouverneuren der Bundesstaaten Rio de Janeiro, Wilson Witzel, und São Paulo, João Doria, angeordnet, andere zogen rasch nach.

Selbst in den Armenvierteln, den Favelas, die meist außerhalb des staatlichen ordnungspolitischen Durchgriffs stehen, hatte man im Gegensatz zu Bolsonaro den Ernst der Lage erkannt. In der bei Touristen beliebten Favela Rocinha riegelte das Drogenkartell Comando Vermelho (CV) den Zugang von außen ab, verhängte eine Ausgangssperre und kündigte an, Exempel zu statuieren, sollten sich die Bewohner nicht daran halten.

Diese seltene inhaltliche Übereinstimmung zwischen Landesregierungen und Drogenbanden war ein Affront in den Augen Bolsonaros. Einmütig tagten die 27 Gouverneure und verständigten sich auf Maßnahmen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen - die gängigen, die man auch in anderen Teilen der Welt ergriff: Ausgehbeschränkung, Schließung öffentlicher Räume, Isolation durch minimale Sozialkontakte.

Bolsonaro: "Brasilien dürfe nicht stoppen"

"Brasilien dürfe nicht stoppen", lautet hingegen Bolsonaros Slogan, den er sogar versuchte, per Werbekampagne zu verbreiten – bis dies ein Gericht verbot. Statt einer rigorosen Politik des sogenannten "social distancing", propagierte Bolsonaro das sogenannte "vertical distancing".

Die Idee dahinter: Anstatt dass alle Bürger zu Hause bleiben, sollten diese Einschränkungen nur für Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen gelten. Der Rest der Bevölkerung könnte dann weiterarbeiten.

Die Zielrichtung Bolsonaros erscheint durchaus nachvollziehbar. Die Wirtschaft hatte sich nach der mehrjährigen Krise noch nicht wieder erholt. Jede kleine Erschütterung, jedes Ausbremsen würde gleich wieder bedeuten, dass Brasilien in eine Rezession schlittern könnte.

Zudem hat sich durch die Wirtschaftskrise der informelle Arbeitsmarkt extrem aufgebläht. Mit ein paar Real in der Tasche lassen sich keine Vorräte für Tage oder gar Wochen anschaffen. In solchen Fällen wären auch schwer kontrollierbare Unruhen in der Bevölkerung denkbar bis hin zu Plünderungen.

Das Risiko dieser Strategie ist jedoch hoch. Je mehr Menschen sich bewegen wie bisher, desto weniger lässt sich die Ausbreitung der Infektion kontrollieren oder gar eindämmen. Das Gesundheitssystem Brasiliens ist, zumindest in den großen Metropolen, zwar auf einem modernen Stand. Davon profitieren aber nur wohlhabende Patienten.

Der überwiegende Teil des öffentlichen Gesundheitssystems Brasiliens dürfte bei einem Pandemieverlauf wie in den USA oder Italien völlig überfordert sein, mit vielen Tausend Toten als mögliche Folge. Während der Wirtschaftskrise waren Krankenhäuser vielerorts kaputtgespart oder gleich geschlossen worden, die medizinische Versorgung mit dem Nötigsten ist längst nicht überall gegeben.

Bolsonaro versagt als Krisenmanager

Dieses Risiko scheint Bolosnaro eingehen zu wollen. Offenbar ist er gewillt, für das wirtschaftliche Fortbestehen Menschen zu opfern. Die Krankheit wird vor allem die arme Bevölkerung des Landes hart treffen. Bolsonaro versagt als Krisenmanager - absichtlich.

Als Populist lebt er von Abgrenzung: "Wir gegen die." Ein riskantes Spiel: Der Regenwald, bei dem er im Sommer eine ähnliche Taktik wählte, war weit weg - aber im Falle von Corona droht sich eine Schneise mitten durch die Gesellschaft zu ziehen.

Bolsonaros Taktik birgt weitere Gefahren. In diesem Falle nicht für Brasilien oder die Bevölkerung, sondern für Bolsonaro selbst. Je weiter die Coronakrise fortschreitet, desto mehr findet sich der Präsident in politischer Isolation wieder.

Gouverneur: "Folgen Sie nicht den Anweisungen des Präsidenten"

Bolsonaros öffentlich geäußerte Kritik an den Gouverneuren Witzel und Doria, sie seien nur zu feige, um seiner wirtschaftsfreundlicheren Politik zu folgen, konterte Doria kühl. "Folgen Sie nicht den Anweisungen des Präsidenten", forderte Doria die Bevölkerung in einem Bericht der Zeitung "Folha de Sao Paulo" auf.

Bolsonaros Krisenmanagement vermochte vielleicht nicht, das Volk hinter ihm zu einen. Dafür ermöglichte es bislang völlig undenkbare andere, zumindest verbale Allianzen. Per Twitter teilte Doria am 2. April 2020 ausgerechnet einen Tweet von Ex-Präsident Lula - und der ist unter normalen Umständen mindestens ebenso ein Erzfeind Dorias wie Bolsonaros.

"Wir haben viele Unterschiede", schrieb er. "Aber jetzt ist nicht die Zeit, Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Das Virus unterscheidet weder zwischen Ideologien noch Parteien. Der Moment ist Zeitpunkt der Konzentration, Ernsthaftigkeit und Arbeit, um dabei zu helfen, Brasilien und die Brasilianer zu retten", twitterte Doria. Ein klarer Seitenhieb gegen Bolsonaro.

Bolsonaro isoliert sich weiter

Der Schulterschluss der Gouverneure hielt jedoch nicht lange. In den Bundesstaaten Santa Catarina und Mato Grosso do Sul setzten sich die Menschen in ihre Autos und fuhren in Autokorsos durch die Städte, um so gegen die Schließung von Geschäften und Unternehmen zu demonstrieren und Bolsonaros Kurs zu unterstützen.

Maßgeblich unterstützt und organisiert wurden diese Autokorsos vom Unternehmer Luciano Hang. Er hatte Bolsonaro schon im Präsidentschaftswahlkampf finanziell und logistisch unterstützt.

Bolsonaro isolierte sich unterdessen weiter. Selbst das Militär schien längst nicht mehr so geschlossen hinter seinem Präsidenten zu stehen, wie der sich das vorstellte. Noch bevor sich Bolsonaro am 24. März auf allen TV-Kanälen des Landes mit einer Ansprache an das Volk wenden konnte, sah man sich in der obersten Führungsebene dazu genötigt, selbst das Wort zu ergreifen.

Zwei Stunden vor Bolsonaro ging der Kommandeur des Heeres, Edson Leal Pujol via YouTube auf Sendung. In dem Video führte er aus, dass die Armee schon seit Längerem dabei sei, gegen das Coronavirus zu mobilisieren. Pujol sprach dabei von der "größten Aufgabe unserer Generation". Worte, wie man sie sich angesichts der heraufziehenden Krise von einem Staatslenker gewünscht hätte. Den Präsidenten hingegen erwähnte Pujol mit keiner Silbe.

Und auch die Ex-Generale innerhalb der Regierung gaben kein einheitliches Bild ab. Während Augusto Heleno trotz positiven Coronatests in Quarantäne an Meetings teilnahm, signalisierten Vertreter der Streitkräfte, im Falle einer Amtsenthebung oder eines Rücktritts Bolsonaros den Vizepräsidenten General Hamilton Mourão zu unterstützen. Mehrmals sollen sich Teile der Generalität getroffen und Szenarien einer Amtsenthebung diskutiert haben.

Politischer Selbstmord live im Fernsehen

Angesichts des öffentlichen Auftretens scheint das auch nicht verwunderlich. Die TV-Ansprache Bolosnaros am 24. März geriet zum PR-Desaster. Gleich mehrfach erneuerte der Präsident darin seine Sicht, bei Corona handele es sich um eine "kleine Grippe" (gripezinho) und Brasilien müsse endlich zurück zur Normalität kehren. Auf Twitter sprach ein bekannter Journalist des Senders "Globo", Ricardo Noblat, tags darauf von "einem politischen Selbstmord live im TV".

Der Druck auf Bolsonaro entlädt sich in Überforderung: Der Kurznachrichtendienst Twitter und die Social Media Plattform Facebook sahen sich dazu veranlasst, Nachrichten und Posts des Präsidenten zu löschen, weil er darin ganz offensichtlich Unwahrheiten verbreitet hatte, um seine Position zu stützen. Ein Novum, denn vom Wahlkampf bis zu diesem Zeitpunkt verstanden es Jair Bolsonaro und sein Unterstützernetzwerk rund um Sohn Carlos, diese Medien virtuos zu nutzen und die Popularität des Präsidenten immer weiter zu steigern.

Nun begannen sie angesichts der wegbrechenden Unterstützung innerhalb der Bevölkerung Fehler zu begehen. Der sonst so erfolgreiche Mix aus Polemik, Beschimpfungen und Bedrohungen gemischt mit Halbwahrheiten und Beleidigungen schienen ihm immer größere Teile der Bevölkerung immer weniger abzukaufen.

Zum Shootingstar avancierte unterdessen Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta. Vor der Krise kaum in Erscheinung getreten und weitgehend unbekannt, trat er mit Beginn der Coronakrise ins politische Rampenlicht. Mandetta wirkt wie ein Gegenentwurf zu Bolsonaro: Überlegt und besonnen formuliert er seine Statements, vermittelt so Verantwortungsbewusstsein und Kompetenz.

Mit Erfolg: Fast über Nacht schossen seine Umfragewerte in der Bevölkerung in die Höhe. Die Linie, die Mandetta im Krisenmanagement verfolgte, glich der, die die Gouverneure und Bürgermeister großer Städte vorgaben. Sie folgten den Anregungen der WHO und der medizinischen Fachleute.

Das erzürnte Bolsonaro. Statt Mandetta rauszuwerfen, zählte er ihn an. Er werde Mandetta nicht "während des Krieges" feuern, sagte Bolsonaro. Riet ihm zugleich aber, sich zurückzuhalten mit seinen öffentlichen Auftritten und dem Präsidenten nicht die Show zu stehlen.

Bolsonaro schlägt versöhnlichere Töne an und warnt das Militär

Bei seiner vierten TV-Ansprache innerhalb von nur vier Wochen am 31. März schlug Bolsonaro dann plötzlich wesentlich friedlichere Töne an. Offenbar hatten ihn die Militärs in der Regierung ins Gebet genommen.

Bolsonaro zitierte sogar das Bild der "größten Herausforderung unserer Generation", das wenige Tage zuvor der Kommandeur Pujol geprägt hatte. An seinen Standpunkten der vertikalen Isolation und dass die Wirtschaft wieder Fahrt aufnehmen müsse, hielt er dennoch weitestgehend fest.

Zudem hatte es Bolsonaro vermieden, in seiner Ansprache auf das für ihn besondere Datum hinzuweisen. Am 31. März 1964 hatten sich die Militärs an die Macht geputscht. Das Datum markierte den Beginn der Militärdiktatur. Noch ein Jahr zuvor hatte Bolsonaro das Militär aufgefordert, das Datum öffentlich wahrnehmbar zu feiern. Bolsonaro sieht in dem Datum weniger den Beginn einer Diktatur, sondern vielmehr einen Tag der Befreiung Brasiliens aus den Fängen des Sozialismus. Dieses Auslassen zeigt die Angespanntheit Bolsonaros.

Zumal plötzlich in Brasilien die Diskussion eröffnet ist, ob Bolsonaro besser zurücktreten solle, oder ob ein Amtsenthebungsverfahren besser geeignet sei, um mit der Demission den Fuß von der Bremse zu bekommen. Am Sonntag (5. April) machte in den sozialen Netzwerken die Nachricht die Runde, Militärs hätten sich für eine Absetzung Bolsonaros entschieden. Der mutmaßliche Vorgang ließ sich aber nicht durch seriöse Quellen bestätigen.

Mit fortschreitender Krise scheint Bolsonaro also das Heft innerhalb der Regierung aus der Hand zu gleiten. Nur noch die eigenen Söhne und seine evangelikalen Unterstützer Macedo, Malafaia und Familienministerin Damares Alves bekennen sich zum Präsidenten. Brasiliens Politik bündelt unterdessen auf vielen Ebenen die Kräfte, um das Land irgendwie fit für die Coronakrise zu machen – und das nicht mit, sondern trotz Bolsonaro als Präsident.

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