• Die aktuelle Auslastung der Intensivressourcen erfordert in einigen Regionen in Deutschland eine Priorisierung von Patienten und Patientinnen.
  • Von überlasteten Gegenden müssen Patienten und Patientinnen in Gegenden mit freien Intensivbetten transportiert werden, die Erstversorgung ist aber dennoch für alle gewährleistet.
  • Experten warnen vor Triage in besonderes stark betroffenen Regionen, andere halten das Eintreten solcher Entscheidungen für unwahrscheinlich.

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Der medizinische Begriff "Triage" kommt aus der Katastrophen- und Militärmedizin und bezeichnet Verfahren, bei denen im Falle einer Katastrophe und bei unzureichenden medizinischen Ressourcen die Patienten und Patientinnen nach Behandlungspriorität sortiert werden und zwar so, dass immer diejenigen zuerst eine medizinische Versorgung erhalten, die sie am dringendsten benötigen. Der Begriff leitet sich aus dem Französischen ab und bedeutet "Auswahl".

"Das Triage-Verfahren spielt dann eine Rolle, wenn eine Situation vorliegt, in der man mehr Patientinnen und Patienten behandeln muss als Ressourcen vorhanden sind. Gebräuchlich ist das in Deutschland im täglichen Geschäft in der Notfallmedizin, zum Beispiel bei einem großen Autounfall. Dann müssen die Notärzte und Notfallsanitäter die verletzten Menschen vor Ort triagieren und die identifizieren, die am dringlichsten der Behandlung bedürfen und diese zuerst versorgen. Das Ziel dabei ist es dabei zunächst nicht zu sortieren, wen man überhaupt retten kann, sondern die knappen Ressourcen so weise einzusetzen, dass man durch eine Versorgung in der Reihenfolge der Dringlichkeit alle rettet, die man retten kann", erklärt PD Dr. med. Frank Herbstreit, Geschäftsführender Oberarzt und Bereichsleiter der Intensiv- und Notfallmedizin am Universitätsklinikum Essen.

Grundsätzlich ist es beispielsweise in der Notaufnahme eines Krankenhauses oder hinsichtlich von Operationen nichts Neues, medizinische Entscheidungen nach Priorität zu gewichten. Denn auch hier muss täglich entschieden werden, wer zuerst behandelt werden muss und bei wem die Situation noch nicht lebensbedrohlich ist.

Triage im Rahmen von Corona

Da hinsichtlich der Corona-Pandemie in lokal besonders stark betroffenen Regionen weltweit immer wieder Überlastungen bei der intensiv-medizinischen Versorgung drohten und drohen, taucht der Begriff auch im Rahmen der Pandemie aktuell immer wieder auf. In Norditalien, das im letzten Jahr zeitweise mit einer extrem hohen Anzahl an COVID-19-Patienten und Patientinnen zu kämpfen hatte, die intensiv-medizinisch versorgt werden mussten und wo eben nicht ausreichend Ressourcen vorhanden waren, mussten die Mediziner Triage-Entscheidungen treffen.

Betrachtet man nur die reine Beatmungspflichtigkeit, hält es Herbstreit in Deutschland für unwahrscheinlich, dass einem Patienten die Behandlung verwehrt werden muss, weil keine Beatmungsgeräte mehr zur Verfügung stehen würden. Er erklärt:
"Würde man in die Situation kommen, dass drei oder vier Patientinnen oder Patienten beatmet werden müssen, aber nur zwei Intensivbetten zur Verfügung stehen, dann müsste man entscheiden, wer das Bett bekommt. Dieser Prozess wäre dann die Triage.

In Deutschland ist das aber, zumindest für den Bereich der großen Universitätskliniken, schwer vorstellbar, weil wir Patientinnen oder Patienten auch im OP-Bereich oder in der Notaufnahme beatmen können und hinsichtlich der Anzahl der Beatmungsgeräte gut aufgestellt sind. Zudem lautet die Rechtsprechung in Deutschland aktuell so, dass man eine begonnene Intensiv-Therapie nicht einfach abbrechen darf. Man könnte einem Patienten also nicht die Behandlung entziehen, weil sie eine andere Person nun dringender braucht. Das heißt, die Entscheidung würde immer nur mit den freien Betten, die man noch zur Verfügung hat, getroffen werden und mit den Personen, die mehr oder weniger gleichzeitig ins Haus kommen."

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Welche Kriterien zählen bei einer Triage?

Um rein theoretisch für den Fall von Triage-Entscheidungen vorbereitet zu sein, hat die Deutsche Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) bereits am 17.04.2020 eine Empfehlung veröffentlicht, in der es darum geht, welche Faktoren bei Triage-Entscheidung eine Rolle spielen dürfen. Der Fokus soll dabei auf den klinischen Erfolgsaussichten liegen, die der jeweilige Patient hat. Aufgrund des Gleichheitsgebots ist es nicht zulässig, Kriterien wie das familiäre Umfeld, das Alter oder soziale Merkmale in die Entscheidung einfließen zu lassen. Auch eine erfolgte oder nicht erfolgte Corona-Impfung spielt keine Rolle. Es heißt auf Seite 4 der Empfehlung:

Die Priorisierung von Patienten soll sich deshalb am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht orientieren. Dabei werden – wenn nicht anders vermeidbar – diejenigen Patienten nicht intensivmedizinisch behandelt, bei denen nur eine sehr geringe Aussicht besteht zu überleben. Vorrangig werden demgegenüber diejenigen Patienten intensivmedizinisch behandelt, die durch diese Maßnahmen eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Die Einschätzung der klinischen Erfolgsaussicht muss für jeden einzelnen Patienten so sorgfältig wie möglich erfolgen.

Professor Georg Marckmann, Vorstand des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität München und Präsident der Akademie für Ethik in der Medizin bestätigt in einer DIVI-Pressemitteilung vom 23.04.2020: "Bei der klinischen Erfolgsaussicht geht es um die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient die aktuelle Erkrankung mithilfe der Intensivtherapie überleben wird. Die längerfristige Überlebenswahrscheinlichkeit und Lebensqualität spielen dabei keine Rolle". DIVI-Präsident Janssens ergänzt: "Wir betonen ganz deutlich, dass aus Gründen der Gleichberechtigung im Falle einer notwendigen Triage immer eine Auswahl unter allen Patienten erfolgen soll, die eine Intensivbehandlung benötigen. Es ist auch ganz gleich, ob es sich um einen COVID-19-Infizierten, einen Schlaganfall-Patienten oder ein Unfallopfer handelt."

Auch Herbstreit bestätigt diese Vorgehensweise in seiner Intensivstation: "Bei uns haben wir festgelegt, dass eine mögliche Auswahl ausschließlich anhand der Dringlichkeit der klinischen Erfolgsaussichten festgemacht werden kann, in diese Betrachtung werden beispielsweise auch Vorerkrankungen mit einbezogen. Würde es einem Patienten so schlecht gehen, dass wir davon ausgehen, dass er das nicht überleben wird, und dazu haben wir gute Vorhersage-Tools, dann wird man sich vermutlich dafür entscheiden, diesen Patienten nicht zu behandeln und einen anderen, bei dem die Erfolgsaussichten besser sind, dafür zu behandeln. Aber das wäre immer eine sehr schwierige, individuelle Entscheidung, die im Team getroffen werden müsste. Wichtig ist, dass Kriterien wie Geschlecht, Herkunft, Sprache, sozialer Status, politische Neigung oder Ähnliches dabei keine Rolle spielen."

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Kommt es zu Triage – ja oder nein?

Ob aufgrund der Pandemie-Lage in Deutschland tatsächlich ein Punkt erreicht wird, an dem es zu derartigen Triage-Entscheidungen hinsichtlich der Verteilung der Intensivbetten in den Krankenhäusern kommen wird, darüber sind sich Experten uneinig.

Prof. Christian Karagiannidis von der DIVI erklärte am 18. November 2021 im Polittalk bei Maybrit Illner im ZDF, dass es in Deutschland keine Triage geben wird, aber in überlasteten Regionen Priorisierungen durchgeführt werden müssen. Auch DIVI-Präsident Gernot Marx geht nicht davon aus, dass es in Deutschland zu einer Triage-Situation kommt.

Der Präsident der Sächsischen Landesärztekammer Erik Bodendieck appellierte dagegen an die Krankenhäuser in den aktuell in Deutschland stark von der Pandemie betroffenen Regionen in Sachsen, sich auf Triage vorzubereiten. Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagte er, dass es bei den aktuellen Prognosen in den nächsten Tagen zu einer derartigen Überlastung kommen könnte, dass zwei Menschen um ein Intensivbett konkurrieren.

Herbstreit geht aktuell nicht davon aus, bald Triage-Entscheidungen treffen zu müssen: "Wenn es zu Überlastungssituationen der Intensivressourcen kommt, dann lokal fokussiert. Ich glaube nicht, dass das deutschlandweit parallel passieren wird. Es werden dann aber Patientinnen und Patienten aus stark betroffenen Regionen in weniger überlastete Regionen transportiert werden müssen. Das ist heutzutage auch mit sehr kranken Personen über weite Strecken möglich. Wir haben in der Klinik täglich eine Lagesitzung zur Auslastung der Intensivbetten und ein konkretes Konzept, wo der nächste Patient hinkommen würde und der übernächste und so weiter."

Nicht nur aus ethischer Sicht sind Triage-Entscheidung schwer belastend, auch juristisch herrscht keine Klarheit, auf welcher Grundlage Mediziner entscheiden können, welcher Mensch intensivmedizinisch versorgt werden kann und welcher möglicherweise auf eine Palliativ-Station verlegt wird. Der Deutsche Ethikrat ruft deshalb in einer ad hoc-Empfehlung zur Coronakrise dazu auf, Triage-Situationen zu vermeiden. Er schreibt in der Empfehlung, dass der Staat menschliches Leben nicht bewerten dürfe, und deshalb auch nicht vorschreiben könne, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten sei.

Medizinische Erstversorgung für alle gewährleistet

Sorgen, dass man bei einem Verkehrsunfall oder einem Herzinfarkt in überlasteten Regionen nicht im Krankenhaus behandelt werden würde, seien unbegründet, sagt der Experte im Gespräch unserer Redaktion: "Sowohl der Rettungsdienst als auch die Krankenhäuser sind so aufgestellt, dass die Erstversorgung selbst bei knappen Ressourcen parallel gewährleistet ist. Wenn ein Notfall wie ein Verkehrsunfall oder Herzinfarkt reinkommt, kann man die entsprechenden Personen immer versorgen, danach könnte aktuell aber ein Verlegungstransport in ein anderes Krankenhaus nötig sein. Außerdem benötigen die meisten Notfallpatientinnen und -patienten zum Glück nicht sofort Intensivbett, sondern zunächst Diagnostik und Operationen. Das ist also eine Sorge, die man nicht haben muss."

Über den Experten: PD Dr. med. Frank Herbstreit ist Geschäftsführender Oberarzt und Bereichsleiter der Intensiv- und Notfallmedizin am Universitätsklinikum Essen. Seine klinischen Schwerpunkte liegen in den Bereichen der Notfall- und Intensivmedizin, hier vor allem bei Lungenversagen. Außerdem beschäftigt er sich mit der Lehrforschung und dem Atemwegsmanagement.

Verwendete Quellen:

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