Während wir gerade ein paar wiedergewonnene Freiheiten genießen, warnt die Wissenschaft schon vor Leichtsinn. Und vor einer zweiten Corona-Welle. Was, wenn ein zweiter Lockdown auf uns zukommt? Könnten wir besser damit umgehen, weil wir das alles nun schon kennen? Oder droht der große Massen-Frust? Was uns helfen kann – und was sich ändern müsste.

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Wir genießen die ersten Lockerungen in der Coronakrise. Doch mit ihnen kommt auch der Leichtsinn, wie aktuelle sozialpsychologische Studien und Umfragen zeigen:

  • "Würden Sie freiwillig in Isolation geben, wenn Sie Corona-typische Symptome aufweisen?" Anfang April antworteten in einer YouGov-Umfrage noch 73 Prozent Prozent mit Ja. Anfang Mai: 63 Prozent.
  • Zudem ist in Deutschland die Bereitschaft am niedrigsten, sich auf Empfehlung einer Gesundheitsbehörde oder eines Arztes in Isolation zu geben: 75 Prozent würden das tun. Bei den Briten und Italienern sind es 91 Prozent.

Was dahinter steckt, ist laut dem Risikoforscher Ortwin Renn ein starker Gewöhnungseffekt in der Bevölkerung, den er kritisch sieht: "Wir sind inzwischen vertraut mit der neuen Situation, kennen wahrscheinlich niemanden oder kaum jemanden, der sich angesteckt hat. Das verleitet zu der Annahme: So gefährlich ist das nicht, die Maßnahmen sind wohl etwas übertrieben."

Zudem ist Deutschland – anders als Italien oder Großbritannien – bisher glimpflich davon gekommen. Experten rechnen aber mit einer weiteren Welle. "Mit großer Sicherheit" werde sie kommen, sagte Anfang Mai der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler. "Die Mehrheit der Wissenschaftler ist sich dessen sicher und viele gehen auch davon aus, dass es eine dritte Welle geben wird." Vor wenigen Tagen bekräftigte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Warnung: Jetzt sei die "Zeit für die Vorbereitung, nicht für Feierlichkeiten", betonte Regionaldirektor Hans Kluge im "Telegraph".

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Risikoforscher meint: Menschen werden verständnisvoll reagieren

Wie würden die Menschen einen weiteren Lockdown aufnehmen? Renn meint, dass die Bevölkerung – wie schon beim ersten Mal – tendenziell verständnisvoll reagieren wird. Die Zustimmung ist zwar im Laufe der vergangenen Wochen gesunken, lag aber zu Beginn der Kontaktbeschränkungen Ende März bei überwältigenden 87 Prozent, rund einen Monat später immer noch bei 74 Prozent (Umfragen von Infratest dimap im Auftrag des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung).

Voraussetzung sei, dass die Politik die Maßnahmen richtig kommuniziere: "Es muss deutlich werden: Wir haben hier eine neue bedrohliche Lage, die Ampel steht auf Rot! Zweitens muss verständlich sein: Wenn wir diese erneuten Maßnahmen jetzt durchhalten, werden wir auch schneller wieder zu mehr Normalität zurückkehren können."

Die Maßnahmen könnten sich regional durchaus unterscheiden: "Doch die Logik dahinter muss dieselbe sein, etwa in Form der Obergrenze", betont Renn. "Sonst drohen Unverständnis und Unsicherheit in der Bevölkerung. Die Argumente müssen klar und nachvollziehbar sein."

Schon wieder Isolation im Lockdown: Können wir das schaffen?

Wie aber wird es um die häuslichen Situationen stehen? Eltern klagten über Homeoffice neben Homeschooling, alte Menschen und Singles über Einsamkeit. Ist das noch einmal durchzustehen? "Viele haben in dieser Zeit des für sie teilweise großen Stresses das entwickelt, was wir Coping Capacity nennen", analysiert Renn. "Sie haben also Mechanismen entwickelt, mit der Krise umzugehen. Diese Menschen sind für einen zweiten Lockdown sogar besser gewappnet."

Dass uns unsere nun erworbene "Lockdown-Routine" helfen wird, meint auch Katharina Beyerl, Psychologin am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung IASS in Potsdam. Wie man in der Krise zurechtkomme, sei zum einen stark von den jeweiligen äußeren Umständen abhängig, zum anderen von der Person: "Psychische Widerstandsfähigkeit hilft uns bis zu einem gewissen Grad dabei, Krisen zu bewältigen. Wir nennen das fachsprachlich: Resilienz." Die bekanntesten Säulen der Resilienz seien:

  • realistischer Optimismus
  • Akzeptanz
  • aktive Lösungsorientierung
  • Selbstwirksamkeit (Überzeugung, Herausforderungen durch eigenes Handeln meistern zu können)
  • Verantwortungsübernahme
  • ein gutes soziales Netzwerk
  • Orientierung auf die Zukunft

"In gewisser Weise können wir unsere Resilienz selbst auch üben und steigern", macht Beyerl Mut. Diese Tipps gibt die Psychologin für die Krise:

  • Eine Tages- und Wochenstruktur einhalten – egal ob man alleine oder in der Familie lebt.
  • Wer viel zu tun hat, sollte bewusst Pausen machen. "Sonst kann er bald weder für sich selbst noch für andere da sein. Dazu gehört auch, gut und regelmäßig zu essen und zu schlafen, sowie körperliche Bewegung."
  • Wer kann, sollte mindestens einmal am Tag an die frische Luft gehen, um den Kopf frei zu bekommen.
  • Soweit möglich: anderen aktiv helfen. Das kann mit einem Anruf passieren, einer selbstgenähten Maske, oder Unterstützung beim Einkauf.
  • Menschen kontaktieren, bei denen wir uns schon lange wieder melden wollten: "So schlimm die Coronakrise ist – einen Aufhänger für ein Gespräch oder eine liebe Nachfrage nach dem Wohlbefinden des anderen bietet sie definitiv!", sagt Beyerl.
  • Im Gespräch einander Mut machen. Dazu gehört: miteinander lachen, rumalbern und über schöne Dinge sprechen.
  • Den Blick immer auf das Positive lenken, für das wir dankbar sind: Dabei können auch Yoga, Meditation oder Beten helfen.
  • Den Blick darauf lenken: "Die Krise, wie wir sie aktuell erleben, wird voraussichtlich kein Dauerzustand bleiben. Es gibt bereits vielversprechende Ansätze für Impfstoffe und Medikamente."
  • Liste schreiben: Was tut mir gut, das ich trotz der Beschränkungen umsetzen kann?
  • Das Wichtigste sei: Aktiv bleiben! Zum Beispiel etwas in Angriff nehmen, das wir uns schon lange vorgenommen haben. Eine gute Möglichkeit sei auch zu gärtnern, zur Not auf dem Balkon.

"Es geht um das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, die Hoffnung nicht aufzugeben, und sein Leben aktiv zu gestalten, jeden Tag aufs Neue. Und wenn es einen Tag mal nicht so gut läuft, es am nächsten wieder zu versuchen", rät Beyerl.

Keine Scheu vor professioneller Beratung

Sehr schlimm wäre ein weiterer Lockdown für diejenigen, die die erste Isolation bereits extrem aus der Bahn geworfen hat, sind sich die Experten einig: etwa für Opfer häuslicher Gewalt oder jene, die aus anderen Gründen keine geeigneten Mechanismen gefunden haben, um mit der Situation umzugehen.

Beyerl betont: "Wer nicht mehr weiter weiß und unter erdrückender Traurigkeit, lähmender Angst, Panikattacken oder häuslicher Gewalt leidet, sollte nicht nur mit Freunden, Familie und Vertrauenspersonen sprechen, sondern auch professionelle Hilfe suchen." Ärzte und Psychologen sind hier die richtigen Ansprechpartner. Beratungen könnten Betroffene auch anonym per Telefon in Anspruch nehmen.

Existenzangst mit gesundheitlichen Folgen

Nicht zuletzt sei die wirtschaftliche Situation das, was für viele die schlimmste und größte Herausforderung der Krise ist. Die jüngsten Lockerungen hielt Renn deshalb für richtig: "Wir dürfen neben dem Coronavirus die gesundheitlichen Schäden nicht aus den Augen verlieren, die eine gebeutelte Wirtschaft verursacht." Allerdings: Bei einer zweiten Welle würde sich auch eine weitere Welle von Pleiten nicht vermeiden lassen, etwa in der Gastronomie. Der Tourismus habe jetzt noch die Chance, sich wieder zu erholen: "Aber kommt eine neue Welle beispielsweise schon im Juli, wäre das einfach katastrophal für die Branche."

Er beobachte generell eine gewisse Erwartungshaltung, die nun dem Staat gegenüber entstanden sei: "Es wird wohl noch Reserven geben, der Staat muss ja mit einer weiteren Welle rechnen, aber sie werden begrenzt sein. Es wird hier zu Verteilungskämpfen kommen."

Chance, vieles zu verbessern

Die erste Welle habe massive Mängel im System gezeigt, beobachtet Beyerl, vor allem zulasten der Schwächsten der Gesellschaft. Bei den Antragstellungen für die Corona-Hilfe etwa: "Hotlines waren überlastet und somit das persönliche Gespräch erschwert. Das hat wieder zu zusätzlichem Stress geführt." Auch beim Homeschooling hätten sich Probleme verschärft, die schon seit Jahren bestehen: "Unterschiede im Bildungsniveau, Verfügbarkeit von Hardware und Rückzugsräumen haben sowohl Eltern als auch Kinder stark belastet."

In der Pflege sei vor allem aufgefallen, wie stark viele Heimbewohner unter der Einsamkeit litten. Dieses Problem müsse man bei einer zweiten Welle viel stärker im Blick haben. Der Mangel an ansprechendem sozialen Austausch sei prinzipiell ein großes Problem für eingeschränkte ältere Menschen. Beyerl sieht hier die "dringende Notwendigkeit, aber jetzt auch die Chance für neue kreative und innovative Konzepte."

Diese Gelegenheit wittert auch Renn: "Es wäre wünschenswert, wenn wir unser Leben nach der Krise ein Stück weit nachhaltiger organisieren, beispielsweise durch etwas weniger Dienstreisen und etwas mehr Videokonferenzen."

Risikoforscher: "Dritte Welle wäre fatal"

Wirklich fatal würde sich aus Renns Sicht eine dritte Welle auswirken. Und zwar vor allem, weil viele die Warnungen womöglich nicht mehr ernst nehmen würden, fürchtet er. "Hier wird der Effekt der Gewöhnung in der Bevölkerung zu stark sein, das Thema wäre dann vergleichbar mit einer Grippewelle."

Das spricht aus Renns Sicht dafür, weiter vorsichtig mit Lockerungen zu sein. Einen solchen goldenen Mittelweg empfiehlt auch eine gemeinsame Studie des Helmholtz-Zentrums und des ifo-Instituts. Darin heißt es: "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine leichte, schrittweise Lockerung der Beschränkungen den Weg mit den niedrigsten wirtschaftlichen Kosten darstellt." Rasche Lockerungen würden nicht nur zu höheren Opferzahlen führen, sondern auch dazu, dass die Beschränkungen insgesamt länger bestehen blieben – und die Kosten am Ende höher wären.

Geduld ist somit das Gebot der Stunde. Und: das Positive zu sehen: "Die Krise führt uns vor Augen, was in unserer Gesellschaft seit Langem nachhaltiger gestaltet werden müsste", analysiert Beyerl, "sowohl wirtschaftlich als auch sozial, kulturell und ökologisch. Was ist wirklich wichtig? Wie wollen wir leben? Und was ist auch regional möglich? Ich hoffe sehr, dass die riesige Chance für die nachhaltige Entwicklung, die in der Krise steckt, genutzt wird."

Zu den Personen: Dr. Katharina Beyerl ist Diplom-Psychologin und promovierte Geografin. Seit 2012 ist sie in Potsdam am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung IASS tätig. Sie beschäftigt sich mit Wahrnehmungen der globalen sozial-ökologischen Krise und Motivationen zur Umsetzung möglicher Bewältigungsstrategien, um langfristig zu nachhaltigeren Lebensstilen beizutragen.
Prof. Ortwin Renn ist Soziologe, Nachhaltigkeitswissenschaftler und Volkswirt. Sein Schwerpunkt liegt auf der Risikoforschung. Renn war von 1994 bis 2016 Lehrstuhlinhaber für Technik- und Umweltsoziologie an der Universität Stuttgart und ist wissenschaftlicher Direktor am Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) sowie Träger des Bundesverdienstkreuzes. Sein kürzlich erschienenes Buch "Gefühlte Wahrheiten. Orientierung in Zeiten postfaktischer Verunsicherung" greift das Thema des Umgangs mit gesundheitlichen, sozialen und politischen Risiken auf.
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