Ronja von Wurmb-Seibel lebt und arbeitet als deutsche Journalistin in Afghanistans Hauptstadt Kabul. Im Interview mit unserer Redaktion verrät sie, warum Afghanistan nicht nur aus Taliban, sondern auch aus Schwanen-Tretbooten besteht und warum das Land einfach nicht zur Ruhe kommt. Für ihren Film "Das tödliche Erbe der Nato" für "Panorama - die Reporter" im NDR (Ausstrahlung: Dienstag, 23. September um 21:15 Uhr) blickt die 28-Jährige hinter die Kulissen der kriegsgebeutelten Region.

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Ronja, wie würdest du das Land Afghanistan jemandem erklären, der noch nie dort war und nur die medialen Bilder vom Krieg kennt?

Afghanistan ist nicht so, wie man es von den Nachrichten kennt. Es besteht nicht aus Burka, Bundeswehr und Taliban. Der erste Eindruck von Kabul war bei mir, dass es eine wahnsinnig lebendige Stadt ist. Überall machen die Leute was, sie quatschen, laden einen zum Tee ein, essen. Die Menschen machen viele Witze, sind wahnsinnig interessiert. Afghanistan ist ein unfassbar schönes Land: Berge, mit Bergseen. Und dann gibt es viele Dinge, die man erst mal nicht erwartet: Kurz vor Kabul zum Beispiel einen kleinen Stausee, in dem man mit Schwanen-Tretbooten fahren kann. Am Ufer stehen ein Riesenrad und eine Schiffschaukel. Viele Afghanen fahren freitags dorthin, um sich zu erholen. Für die meisten Menschen ist der Alltag hier wahnsinnig anstrengend: die Wirtschaft ist am Boden, die Zukunft unsicher – und dann kommt noch der Krieg dazu. Da kommt es allerdings darauf an, wo in Afghanistan man ist: Im Süden und im Osten ist es viel gefährlicher als in Kabul.

Hast du manchmal das Gefühl, dass du in Angst leben musst, dass du gefährdet bist?

Nein, Angst habe ich eigentlich nicht. Es gibt hier natürlich mehr Risiken als in Hamburg oder in München, aber im Grunde genommen sind auch diese recht überschaubar. Es gibt natürlich die Gefahr, dass man bei einem Anschlag stirbt oder dass man entführt wird, beides ist aber relativ überschaubar. Kabul ist eine Stadt, in der mindestens vier Millionen Menschen leben, manche sprechen sogar von sieben Millionen, und da muss man schon Pech haben, dass man sich genau an dem Ort befindet, wo etwas passiert. Die Momente, in denen ich Angst habe, gibt es eigentlich nur, wenn ein Anschlag irgendwo passiert und ich weiß, dass da ein Freund in der Nähe ist. Ich mache mir also mehr um meine afghanischen Freunde Sorgen.

Ronja von Wurmb-Seibel gemeinsam mit Niklas Schenck. © ZVG / Ronja von Wurmb-Seibel

Ein Jahr Kabul verändert einen wahrscheinlich sehr. Wie ist das für dich, für die diese Welt bis dato neu war?

Ganz viele Dinge sind mittlerweile anders. Das erste Mal habe ich es gemerkt, als ich an Weihnachten wieder in das kleine Dorf nach Deutschland kam, in dem ich aufgewachsen bin. Dort kenne ich die Leute seit mindestens 20 Jahren und bei manchen Freunden habe ich gemerkt, dass ich gar nicht wusste, wie viele Geschwister sie eigentlich haben. In Kabul beziehen sich die ersten Fragen immer auf die Familie: Wie geht’s allen, sind sie gesund, was machen deine Geschwister, was machen deine Eltern? Dort redet man erst einmal einige Minuten über die Familie. An Weihnachten habe ich dann auch angefangen zu fragen: Hast du eigentlich Geschwister? Was machen die jetzt? Irgendwann haben mich alle gefragt, ob ich noch ganz bei Trost bin. Die Familie ist in Afghanistan einfach wahnsinnig wichtig. Und wenn ich mich bei guten Freunden mal drei Tage nicht melde, fragen sie gleich nach, was los ist und dass ich mich nicht so verziehen darf. Die Menschen verbringen hier sehr viel Zeit miteinander und das finde ich auch sehr schön.

Wie hat sich diese Mentalität auf dich ausgewirkt?

Ich glaube, das was mich sehr verändert hat, war vor allem der letzte Film, den wir gemacht haben und die Gruppe von Jugendlichen, um die der Film ging. Die haben sich vorgenommen, dass sie den Krieg weltweit abschaffen. Sie wissen natürlich, dass das nicht funktioniert, sie wollen aber auch nicht aufgeben. Wir haben wahnsinnig viel Zeit mit ihnen verbracht und der Gedanke, dass man Krieg nicht einfach so akzeptieren sollte bzw. dass ich das nicht möchte, hat mich schon sehr verändert.

Wie kommt man an die ganzen berührenden Lebensgeschichten von drogenabhängigen Kindern, toten Polizisten und Aufständische ran?

Die Geschichten kommen eigentlich an mich ran. Es ist also nicht so, dass ich hier gezielt nach Geschichten suche, sondern ich als Deutsche versuche, mich so gut es geht auf das Leben der Menschen hier einzulassen. In einem Land wie hier, wo so viel passiert und wo so viele Menschen leiden, muss man eigentlich nur da sein und zuhören. Es ist einfach sonst niemand da. Außer mir und meinem Freund leben momentan keine anderen deutschen Journalisten hier.

Wie bist du in Kabul aufgenommen worden?

Gerade als Deutsche hat man in Kabul einen Extrabonus: Die Leute begrüßen einen als "Bruder" bzw. "Schwester" und – was ein bisschen befremdlich ist – es kommt gleich das Argument, dass wir beide Arier und damit vom gleichen Stamm seien. Als Deutsche ist das natürlich erst mal befremdlich. Aber es gibt noch andere Gründe. Die Regierungen von Deutschland und Afghanistan haben vor hundert Jahren einen Freundschaftsvertrag geschlossen und tatsächlich sind die Deutschen hier wahnsinnig beliebt. Ganz abgesehen davon sind die Afghanen sehr gastfreundlich, besonders wenn Leute aus dem Ausland kommen. Manchmal konnte ich es gar nicht glauben, wie nett und herzlich ich hier aufgenommen wurde.

In deinem zweiten Film zeigst du aber auch Schattenseiten auf. Worum genau geht es darin?

In "Das tödliche Erbe der Nato" geht es darum, dass die Nato und die Bundeswehr bei ihrem Abzug Blindgänger in Afghanistan zurücklassen bzw. schon zurückgelassen haben. Einige dieser Blindgänger explodieren schon bei der kleinsten Berührung. Die Blindgänger, also Munition, die in Gefechten oder beim Training nicht explodiert ist, verstümmeln oder töten Menschen. Bisher sind mindestens 32 Menschen gestorben. Allerdings handelt es sich hier nur um Fälle, die etwa von Krankenhäusern oder der UN registriert wurden. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich noch sehr viel höher. Mehr als 80 Menschen wurden durch diese Blindgänger verletzt. Und vier von fünf Blindgänger-Opfern sind Kinder.

War der Abzug der Nato angesichts dieser Zahlen eher Fluch oder Segen für Afghanistan?

Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten. Ob der Einsatz der Nato gebracht hat, was er sollte, darüber kann man streiten. Mit Sicherheit hat er Vorteile gebracht, mit Sicherheit ist aber auch vieles schiefgegangen. Unabhängig vom Einsatz ist aber das, was wir in unserem Film behandeln: nämlich das, was man hätte vermeiden können.

Und das wäre?

Zivile Opfer bei Luftangriffen lassen sich nicht vermeiden. Es gibt Blindgänger, das kann man nicht ändern. Wozu sich Deutschland aber in einem internationalen Abkommen verpflichtet hat, ist, dass man diese Blindgänger auch wieder aufräumt. Es ist tragisch, dass am Ende eines solchen Nato-Einsatzes Menschen sterben, die einfach nicht sterben müssten. Vor allem, nachdem so viele Menschen in diesem Krieg bereits gestorben sind und auch noch sterben werden.

Hat sich das Land vom zurückliegenden Krieg in irgendeiner Weise bereits erholt?

Nein, das kann man so nicht sagen. Der Krieg ist nicht vorbei. Der Abzug der Nato bedeutet auf keinen Fall, dass das Kämpfen jetzt vorbei ist. Im Gegenteil: In manchen Teilen des Landes werden die Gefechte wieder stärker. Wovor die Afghanen Angst haben, ist, dass so etwas passiert wie nach dem Abzug der sowjetischen Truppen 1989. Damals hat sich die internationale Gemeinschaft von Afghanistan abgewendet und das Land allein gelassen. Daraufhin ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen, der mehrere Jahre dauerte und in dem allein in der Stadt Kabul mehr als 300 Bomben am Tag gefallen sind. Danach stand die Machtergreifung der Taliban. Viele Afghanen haben Angst, dass die Macht und die Regierung nicht stabil genug sind und dadurch neue Konflikte entstehen können. Es gibt aber auch die Afghanen, die viel Hoffnung in die Zeit nach dem Abzug legen und sagen "dann sind wir wieder unter uns" - dann können wir neu anfangen.

Sind Ruhe und Frieden in Afghanistan überhaupt möglich?

Das kann ich nicht beurteilen. Aber wenn ich meine afghanischen Freunde frage, die Mitte 20 sind, gibt es die optimistischen, die sagen: "Eines Tages wird der Frieden schon kommen." Wenn ich sie frage wann, setzen sie auf die übernächste Generation, auf ihre Enkelkinder. Trotzdem wollen die Jugendlichen nicht aufhören, an den Frieden zu glauben. Das ist es, was mich auch ein Stück weit verändert hat: Dieser ganz starke Wille - der natürlich auch ein Zwang ist, weil es keine Alternative gibt. Der starke Wille dazu, dass man sich für die Dinge, an die man glaubt, auch einsetzen muss. Und selbst wenn man dafür kämpft, ist nichts sicher.

Haben die Menschen angesichts ihrer eigenen Situation überhaupt die Zeit, sich mit aktuellen Geschehnissen wie etwa dem Kampf gegen den IS-Terror auseinanderzusetzen?

Israel, Palästina, oder auch eben jetzt wieder Irak werden in Afghanistan über das Internet und die Medien sehr stark mitverfolgt. Europäische Konflikte eher weniger.

Wirst du nach allem, was du gesehen und gehört hast, noch mal ein normales, unbeschwertes Leben in Deutschland führen können?

Ich glaube eher, dass ich das unbeschwerte Leben nun erst recht leben kann. Weil ich es mehr zu schätzen weiß und verstehe, was für ein Glück wir haben, in Deutschland geboren zu sein. Ich kann mir aussuchen, ob ich hier sein möchte oder nicht, ob ich in Deutschland wohnen möchte oder lieber in einem der vielleicht 190 anderen Länder, die wir mit unserem Pass problemlos bereisen können. Vielleicht werde ich dankbarer leben und etwas demütiger sein.

Im März 2015 erscheint dein erstes Buch. Womit wirst du dich darin besonders beschäftigen?

Das Buch geht wenig überraschend auch um Afghanistan. Allzu viel darf ich noch nicht verraten, aber im Grunde geht es um die Afghanen, die ich kennengelernt habe und die mich mit ihren Geschichten berührt haben. Ich versuche, den Fokus im Buch mehr auf die Menschen zu richten, die im Guten wie im Schlechten mit den Deutschen und ihrem Einsatz zu tun hatten.

Ronja von Wurmb-Seibel (28) ist vor einem Jahr von Hamburg nach Kabul gezogen und arbeitet dort als Journalistin an der Seite des freien Reporters Niklas Schenck. Sie schreibt für diverse Magazine, hat Dokumentationen für den NDR produziert, und ist Autorin der Kolumne "Ortszeit Kabul", die lange in der "Zeit", nun auf ihrer eigenen Website erscheint. Im März 2015 erscheint ihr erstes Buch.
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