• Weltweit experimentieren Forscher mit Genen gefährlicher Viren: Zum Schutz der Menschheit, wie es zur Begründung heißt.
  • Doch das erworbene Wissen kann auch zum Gegenteil genutzt werden.
  • Nun setzen sich Wissenschaftler für ein Verbot dieser Gain-of-Function-Forschung mit Viren ein.

Mehr aktuelle Informationen zum Coronavirus finden Sie hier

Man nehme ein Virus, erhöhe dessen Übertragbarkeit und stärke die für Menschen gefährlichen Gene. Klingt nach Science Fiction? Ist es aber nicht. Bei der sogenannten Gain-of-Function-Forschung mit Viren wird genau das gemacht.

Ins Deutsche übersetzt bedeutet Gain-of-Function (GoF) soviel wie die Gewinnung von neuen Funktionen. In einem Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages heißt es dazu: "Ein Ziel der GoF-Forschung ist es, Krankheitserreger und ihre Interaktion mit menschlichen Wirten besser zu verstehen und vorherzusagen."

Das klingt zunächst einmal plausibel. Schaut man sich die bekanntesten Experimente an, scheint die GoF-Forschung auch interessante Erkenntnisse hervorzubringen - solange die Labore sicher sind.

Vogelgrippe-Experimente sorgen für Wirbel

Moderat erscheinen die Experimente von Ralph Baric von der University of North Carolina. Bereits im Jahr 2015, also vier Jahre vor dem Ausbruch der weltweiten Corona-Pandemie, konnte der Wissenschaftler beweisen, dass ein Abkömmling des damaligen Coronavirus Labormäuse und menschliche Zellen infizieren kann. Er zeigte damit, dass bei Fledermäusen vorkommende Coronaviren das Potenzial haben, Virus-Pandemien auszulösen.

Für reichlich Wirbel sorgten die GoF-Experimente des niederländischen Virologen Ron Fouchier mit einem Vogelgrippe-Virus H5N1. Normalerweise werden diese Viren in extrem seltenen Fällen von Vögeln auf Menschen übertragen - vor allem in Zuchtanlagen mit tausenden Tieren. Falls es doch zu einer Übertragung auf einen Menschen kommt, endet die Infektion meist tödlich.

Fouchier und seine Mitarbeitern manipulierten das Vogelgrippe-Virus, sodass es Säugetiere - in diesem Fall Frettchen - infizieren konnte. Zudem veränderten die Forscher die Gene des Virus dahingehend, dass es zwischen den Frettchen über die Luft übertragen werden konnte.

Wie das "Ärzteblatt" berichtete, entbrach damals eine heftige Debatte in der internationalen Wissenschaftsgemeinde. Die einen warnten, solche Arbeiten könnten Pandemien auslösen und sogar von "Bioterroristen" genutzt werden. Die andere Seite verwies darauf, dass die Veränderungen der Viren in der Natur ohnehin passieren würden und man mit der Forschung nur das Verständnis über Viren vertiefe.

Am Ende des Streits stand ein Moratorium der US-Regierung unter Barack Obama, GoF-Forschung insbesondere mit Influenca-, SARS- und MERS-Viren nicht mehr zu finanzieren. Das galt allerdings nur bis 2017. Dann hob die Trump-Regierung das Moratorium wieder auf. Zur Begründung hieß es, man wolle bei drohenden Gefahren möglichst schnell Gegenmaßnahmen entwickeln können.

Was für Gain-of-Function-Forschung spricht

Auch heute gibt es Wissenschaftler, die Gain-of-Function-Forschung befürworten. So argumentiert die Biomedizinerin Silke Sterz von der Uni Zürich, dass sich durch GoF die Gefahr von künftigen Pandemien besser voraussagen und bereits im Vorfeld Impfstoffe entwickeln lassen können. "Aus der Baric-Studie beispielsweise hätte man schon 2015 schließen können, dass SARS-CoV-ähnliche Fledermausviren, die in China zirkulieren, pandemisches Potenzial haben", sagte Silke Sterz der Zeitschrift "Spektrum".

Die Gefahr, die von dieser Forschung ausgehe, werde ihr zufolge überschätzt. Silke Sterz begründet das mit abgeschotteten Laboren, Sicherheitswerkbänken, Atemschutzmasken und Überdruckanzügen, um Infektionen zu verhindern. "Sollte sich trotzdem jemand anstecken, greifen Quarantänemaßnahmen. Zudem steht das Labor insgesamt unter Unterdruck, so dass kein Material entweichen kann. All das macht die Versuche sehr, sehr sicher."

Allerdings sind bereits gefährliche Viren aus Hochsicherheitslaboren entkommen: So kostete das Marburg-Virus im Jahr 1967 sieben Menschen das Leben. In Birmingham wurde 1978 ein Mensch mit einem Pockenvirus aus einem Labor infiziert. Auch die ursprünglichen Coronaviren sind bereits mehrfach aus Laboren entkommen, so beispielsweise 2004 aus einem Labor in Peking.

Forscher ruft zu Stopp von Gain-of-Function auf

Aufgrund der genannten und vor allem wegen der potenziellen Gefahren ruft der Nanowissenschaftler Roland Wiesendanger in seiner Hamburger Erklärung 2022 zu einem weltweiten Stopp der Gain-of-Function-Forschung an Krankheitserregern auf. Der Physiker hatte in einer Studie im vergangenen Jahr den Ursprung des jetzigen Corona-Virus SARS-CoV-2 beleuchtet. Ihm zufolge sprechen viele Indizien für einen Laborunfall am virologischen Institut der Stadt Wuhan als Ursache der gegenwärtigen Pandemie.

Zuletzt warf Wiesendanger dem deutschen Virologen Christian Drosten in der Zeitschrift "Cicero" vor, dass er die Laborhypothese zu schnell und absichtlich unter den Tisch fallen lassen habe. Was am Ende stimmt, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden - für beide Theorien, also für die Virus-Entstehung im Labor oder die natürliche Übertragung von einem Tier auf den Menschen (Zoonose) gibt es Argumente.

Wiesendanger jedenfalls will künftige Laborausbrüche verhindern und generell der Gain-of-Function-Forschung an Viren einen Riegel vorschieben. Seine Hamburger Erklärung haben mittlerweile Forscher aus verschiedenen Ländern unterschrieben. Einer der Unterzeichner ist Günter Theißen, Professor für Genetik an der Universität Jena. "Als Grundlagenforscher habe ich sehr große Skrupel, anderen Kolleginnen und Kollegen die Arbeit zu verbieten. Deshalb ist das für mich eine riesige Hürde, so eine Erklärung zu unterschrieben", sagt der Genetiker.

"Aber wenn man das eng definiert und nur von Krankheitserregern mit weltweiten Pandemie-Potenzial redet - und das steht bei der Hamburger Erklärung darüber - dann ist das für mich gerechtfertigt", so Theißen.

Lesen Sie auch: Nach Vertuschungs-Vorwürfen: Christian Drosten findet klare Worte

Wie sollte ein Verbot umgesetzt werden?

Das Argument, mit GoF könnten künftige Pandemien verhindert werden, ist für den Jenaer Wissenschaftler wenig überzeugend. Dass die Viren durch den Kontakt mit Menschen mutieren und pandemisches Potenzial haben, sei hypothetisch. "Aber wenn man sie in Großstädte bringt und dort gezielt manipuliert, so dass sie auf Menschen übertragbar sind, dann beschwört man die Gefahr selbst herauf", sagt Theißen, der die Forschung mit einem Gleichnis beschreibt: "Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Feuerwehrmann, rennen mit einem Feuerzeug durch einen Stall mit Heuballen, zündeln überall rum und sagen: Sehen Sie, das kann ganz leicht alles abbrennen."

Aber wie sollte ein Verbot umgesetzt werden? Weltweit gibt es mindestens 59 Labore, in denen Gain-of-Function-Forschung betrieben wird - offiziell, wohlgemerkt. Aufgrund der ungenauen Angaben könne eine Kontrolle nur schwer umgesetzt werden, sagt Genetiker Theißen, gerade wenn es auch geheim im militärischen Bereich geschieht.

Eine Option wäre allerdings ein Finanzierungsstopp solcher Experimente mit öffentlichen Mitteln. "Molekularbiologie kostet einiges an Geld, das werden viele öffentliche Institutionen wie Universitäten sich dann nicht mehr leisten können", sagt Theißen.

Die andere Möglichkeit sei ein Veröffentlichungsverbot gefährlicher GoF-Experimente. "Dann wäre diese Forschung für Wissenschaftler an öffentlichen Forschungsinstituten nicht mehr interessant. Ohne Veröffentlichung haben sie keine Reputation und können keine Karriere machen", erklärt der Genetiker. Ein direktes Veröffentlichungsverbot dürfte aber schwer durchzusetzen sein, insbesondere bei internationalen Zeitschriften.

Effektiver könnte ein klares Verbot solcher Experimente zumindest in den führenden Wissenschaftsnationen wie zum Beispiel den USA und den europäischen Staaten sein. "Dies würde de facto für Forscher in diesen Ländern einem Veröffentlichungsverbot entsprechen", so Theißen weiter.

Gain-of-Function-Forschung auch in Deutschland

Welche Art von Genexpertimenten mit Viren es in Deutschland gibt, ist schwer zu recherchieren.

Gain-of-Function sei eine experimentelle Methode, die in vielen biomedizinischen Forschungsgebieten Anwendung finden kann, heißt es auf Anfrage unserer Redaktion beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). "Über entsprechende Projekte sowie über die ausführenden Forschungseinrichtungen führt das BMBF daher keine systematische Auflistung. Die Durchführung und Dokumentation entsprechender Projekte obliegt den jeweiligen Forschungseinrichtungen unter Berücksichtigung der rechtlichen Rahmenbedingungen und einschlägigen Empfehlungen."

Ein Beispiel für eine Einrichtung, in der GoF-Forschung betrieben wird, ist das Institut für Virologie der Universitätsklinik Freiburg. Wissenschaftler versuchen dort herauszufinden, in welchen Fällen Vogelgrippe-Viren das menschliche Immunsystem überwinden können. In einem Radiobeitrag auf "SWR2"-Wissen erklärt Forschungsleiter Professor Martin Schwemmle: "Wir versuchen, diese Immunantwort zu umgehen, indem wir das Virus mit etwas Neuem ausstatten. Und führen so artifiziell diese drei bis vier Aminosäuren in das H5N1- oder in das H7N9-Virus ein, die es ermöglichen, dass diese Viren übertragbar sind."

Die Forscher konnten zunächst zeigen, dass Vogelgrippe-Viren große Probleme haben, das menschliche Abwehrsystem zu überwinden. "Wenn man tatsächlich infiziert wird, liegt es wahrscheinlich an einem Gendefekt", sagt Schwemmle. Ein Ziel der Forschung in Freiburg ist, einen Gentest entwickeln, mit dem gefährdete Personen identifiziert werden können.

Mutationen auch ohne Gain-of-Function

Ob nun im Labor oder in der Wildnis: In Zukunft muss sich die Menschheit auf weitere Pandemien einstellen. Das liege an der veränderteren Lebensweise der Menschen, sagte Virologin Sterz in der Zeitschrift "Spektrum": "Wir betreiben exzessive Landnutzung, dringen in Lebensräume von Wildtieren ein und wenn dabei Erreger auf uns überspringen und eine infektiöse Krankheit verursachen, ist sie wegen der hohen Besiedlungsdichte, der globalen Vernetzung und des weltweiten Reiseverkehrs sehr viel schwerer einzugrenzen als früher."

Verwendete Quellen:

  • Telefonat mit Günter Theißen, Professor für Genetik an der Uni Jena
  • Interview mit Virologin Silke Sterz von der Universität Zürich zu Gain-of-Function-Forschung in der Zeitschrift Spektrum
  • Studie zur Infektion von ursprünglichen Corona-Viren von Ralph Baric in der Zeitschrift Nature
  • Experiment zur Übertragbarkeit des Vogelgrippe-Virus zwischen Säugetieren von Ron Fouchier
  • Artikel über die Reaktionen auf die Experimente von Ron Fouchier mit Vogelgrippe-Viren im Ärzteblatt
  • Studie des Hamburger Nanowissenschaftlers Roland Wiesendanger zur Entstehung des Corona-Virus
  • Hamburger Erklärung 2022 gegen Gain-of-Function-Forschung
  • Viren aus dem Labor - wie gefährlich ist Gain-of-Function-Forschung. Radiobeitrag von SWR2-Wissen
  • Analyse des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu Gain-of-Function-Forschung
  • Anfrage an das Bundesministerium für Bildung und Forschung
Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "Einblick" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen. Unsere Berichterstattung findet in Übereinstimmung mit den JTI-Standards der Journalism Trust Initiative statt.
Blutwäsche

Erste Hinweise: Hilft eine Blutwäsche gegen Long-COVID?

Erste Untersuchungen legen die Vermutung nahe, dass eine Blutwäsche bei Long-COVID helfen könnte.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.