Jedes Mal, wenn ich gebrannte Mandeln rieche, denke ich an Weihnachten. Ähnlich verhält es sich mit Kartoffelsalat. Da denke ich natürlich nicht an Weihnachten, sondern an "Wetten, dass..?".

Eine Kolumne
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Nicht, weil die Frisur von Thomas Gottschalk mich an zu viel Mayonnaise erinnern würde, sondern weil die zwischenzeitlich mal erfolgreichste Samstagabend-Show Europas mit zeitweise mehr als 20 Millionen Zuschauern in meiner Kindheit eine Art Familienritual war, zu dem der köstliche Kartoffelsalat von meiner Mutter gereicht wurde.

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Abseits von ganz seltenen Ausnahmen bei wichtigen Fußballspielen waren die Samstagabende mit Thomas Gottschalk die einzigen Momente, in denen die gesamte Familie im Wohnzimmer zusammenkam und das Abendessen vor der sogenannten Glotze eingenommen werden durfte. Meine Schwester und ich gingen vorher gemeinsam in die Wanne, kuschelten uns in unsere flauschigsten Bademäntel, belegten frühzeitig vor 20:15 Uhr die Pole Positions auf der Couchlandschaft und verteilten unsere Lieblingssüßigkeiten für den langen Abend um uns herum. Im Winter gab es dazu warmen Kakao, im Sommer selbstgemachte Limonade. Feiertage für Familienmenschen wie mich. Aus dieser Warte betrachtet, werde ich Thomas Gottschalk für immer dankbar sein.

Diesen Samstag, geschätzte 17 Jahre nach meinem letzten gemeinsamen "Wetten, dass..?"-Familienerlebnis, nimmt Thomas Gottschalk seinen Hut. Da bin ich selbstverständlich von Minute 1 an live dabei. Noch einmal in Nostalgie schwelgen. Ehrensache. Tatsächlich ist sogar meine Schwester zu Besuch angereist. Sie lebt schon lange auf Mallorca, aber diesen Abend lassen wir uns nicht nehmen. Vor lauter Vorfreude wären wir beinahe um 18 Uhr zusammen in die Badewanne gegangen.

Pünktlich nach der Eurovisions-Hymne, die ich als Kind lange für die "Wetten, dass..?"-Erkennungsmelodie hielt, taucht Frank Elstner auf dem Bildschirm auf. Die Älteren kennen ihn noch als Thomas Gottschalk der Großeltern-Generation. Aber: Ehre wem Ehre gebührt. Elstner hat "Wetten, dass..?" erfunden und damit Thomas Gottschalk im Prinzip zu extremem Reichtum verholfen. Ohne Frank Elstner würde Gottschalk womöglich gerade die 34. Fortsetzung von "Die Supernasen" mit Mike Krüger drehen. Vermutlich mit dem Namen "Zwei Supernasen entdecken TikTok".

Früher war alles besser

Dann geht es aber endlich los. Servus-Onkel Gottschalk traditionell in exaltierter Garderobe, dafür aber mit überraschend wenig Weltstars. Während sich früher Hollywoods A-Liste von Tom Cruise über Will Smith und Tom Hanks bis Halle Berry die Klinke auf der Couch von Chauvi-Therapeut Gottschalk in die Hand gaben und eigentlich jede Show mit mindestens einem Oscar-Gewinner aufwartete, empfängt Promi-Märchenonkel Thommy statt George Clooney und Julia Roberts heute Abend regionale Weltstars wie Stefanie Stappenbeck und Chef-Virologe Jan Josef Liefers, der für seine Performance im dystopischen Intelligenz-Blockbuster "AllesDichtMachen" bis heute vom linksgrünversifften Feuilleton ignoriert wird.

Darum sendet Gottschalk heute auch nicht aus Hollywood, sondern aus Offenburg. Die Message lautet bei Gottschalks letztem Tanz auf der großen Showbühne: Der Moderator ist der Star. Der jedoch beteuert bereits in seinem Eröffnungsmonolog: "Das wird heute keine öffentliche Grablegung". Aha? Entweder meint er eigentlich "Bestattung", oder er hält sich tatsächlich für Jesus. Diese Frage kann aber vermutlich nur der Papst der deutschen TV-Landschaft beantworten, aber Günther Jauch fehlt heute Abend unentschuldigt.

Stattdessen begrüßt Berufs-Schenkelklopfer Thomas Gottschalk als ersten Gast die germanische Antwort auf Chris Hemsworth: spielt in dutzenden von Filmen, aber keiner könnte exakt erklären, warum. Als ich vor einigen Wochen "Oppenheimer" im vollbesetzten Zoo Palast sah, brach das Auditorium in ungläubiges Lachen aus, als zwischen Cilian Murphy, Matt Damon, Robert Downey Jr., Gary Oldman und Emily Blunt plötzlich der als Lover von Ruby O. Fee bekannt gewordene Schweighöfer durchs Bild stolperte. Für alle, die weder "Oppenheimer" noch Matthias Schweighöfer kennen: Das ist etwa so, als würde Ricky Gervais in seiner Show sein größtes Idol und komödiantisches Vorbild ankündigen, und dann kommt Mario Barth auf die Bühne.

Zum Glück ist es dann Zeit für die erste Wette. Seit Jahrzehnten der Motor des Formats. Laut Statistischem Bundesamt leben nur noch 4.302 Männer mit dem Namen Horst in Deutschland, etwa 3.804 davon haben seit 1981 bereits eine Wette bei "Wetten, dass..?" platziert. Auch 2023 ist wieder ein Horst dabei. Traditionen sind wunderbar. Der 2023-er Horst möchte fünf Hähne an ihrem Schrei erkennen. Das ZDF hat keine Kosten und Mühen gescheut und Deutschlands fünf bekannteste Gockel ins Studio geholt: Friedrich Merz, Richard David Precht, Til Schweiger, Dieter Bohlen und Wolfgang Kubicki. Hatte ich jedenfalls gehofft. Die Gockel-Küche bleibt jedoch kalt, Hunger bekommen wir trotzdem.

Wenn wir Ende der 90-er und Anfang der 2000-er bei meiner Münsteraner Oma "Wetten, dass..?" schauten, gab es zu dieser Zeit immer Pizza von der Pizzeria Italia an der Gertrudenstraße. Meine Oma liebte Gottschalk, war aber kein großer Fan von nicht selbst gekochtem Essen für zu Hause. An "Wetten, dass..?"-Abenden wurde aber im Fernsehzimmer gegessen und da ließ sich meine Oma zu kulinarischer, italienischer Heimversorgung erweichen.

In dieser Tradition bestellen meine Schwester und ich Pizza und verfolgen den audiovisuellen Hahnenkampf. Der letzte Hahn klingt ein bisschen wie Durchfall, Matthias O. Fee bekommt einen Lachanfall – aber Horst gewinnt souverän. Insgesamt schade für alle Horsts, dass mit dem Ende von "Wetten, dass..?" nun auch ihre TV-Beteiligungen für immer ad acta gelegt sind. Wobei: Warum sollte es den Horsts des Landes besser ergehen als Chris de Burgh oder Status Quo?

Bastian Schweigenscheinsteiger

Auch die erste musikalische Darbietung des Abends rührt heftig in meinem privaten Erinnerungs-Süppchen. Als Take That 1996 bei "Wetten, dass..?" ihren damals vermeintlich letzten Auftritt als Band absolvierten, war ich sieben Jahre alt und sehr traurig. Meine Schwester war zehn und noch trauriger.

Heute wirkt Gary Barlow immer noch wie ein Ralf Schumacher Double und Howard Donald wie Markus Lanz nach einem dreijährigen Entzugsaufenthalt in der Betty Ford Klinik, nur Mark Owen sieht inzwischen aus wie Zonkmaster Jörg Draeger. Die beiden anderen ehemaligen Mitsinger fehlen unentschuldigt. Robbie Williams ist mittlerweile Netflix-Dokustar und Jason Orange ist seit fast zehn Jahren von der Bildfläche komplett verschwunden. In der Musik-Branche nennt man ihn schon die Lehman Brothers der Popsänger.

Nach dem Auftritt darf auch Lena Mantler kurz auf die Bühne und ihre Ehrerweisungen für die Mutter aller Boybands loswerden. Als die ehemaligen 50 Prozent von "Lisa & Lena" im Juni 2002 geboren wurde, war die Take That Karriere bereits seit sechs Jahren beendet. Aber andererseits: In Berliner Szene-Restaurants stapeln sich am Wochenende Influencerinnen, die regelmäßig in "Ramones" Shirts auf Instagram posieren. Alterstechnisch ist nicht auszuschließen, dass selbst deren Großväter noch rätseln, wer dieser Designer "Ramones" wohl sein könnte. Weil mit Matthias O. Fee noch nicht genug knapp 40-jährige, blonde Männer im Gästebereich hocken, holt Gottschalk Bastian Schweinsteiger auf sein Sofa. Als Fußball- und FC Bayern-Edelfan nennt er ihn konsequent "Bastian Schweigsteiger". Wobei, wenn man mal ein Interview mit Bastian Schweinsteiger führen musste, weiß man: lieber schweigen als Schweinchen.

Während der obligatorischen Hunde-Wette (Live-TV-Regel Nummer Eins: Kinder und Tiere gehen immer!) rutscht Gottschalk der Satz "Hör auf mit dem Gewinsel" raus. Er rettet sich dann aber knapp mit einem nachgeschobenen "hat mein Vater immer zu mir gesagt." Immer noch besser als José Ruiz Blasco. Die Legende sagt, José hätte zu seinem Sohn stets "Hör auf mit dem Gepinsel" gesagt. Der Sohn: Pablo Picasso. Merken Sie sich das ruhig für den nächsten Party-Smalltalk.

Der nachfolgende so genannte Show Act performt dann, anders als Take That, via Playback. Kurz denkt man: Ach guck mal, Helene Fischer hat ihre Tochter dabei. Ist dann aber doch nur Shirin David. Beide präsentieren eine Art Rummel-Rap-Version von "Atemlos durch die Nacht". Bevor gleich noch die Rolling Stones mit den Elevator Boys eine Rap-Version von "(I Can´t Get No) Satisfaction" bringen (in einem Aufzug), liebäugle ich mit einem spontanen Sekundenschlaf. Aber was soll ich sagen – ich muss arbeiten.

Im anschließenden Talk zeigt sich Gottschalk von genau der Seite, mit der er Fernsehgeschichte geschrieben hat: Dem lustig gekleideten Altherrenwitz, der für ausgelassenes Gejohle auf jedem Bingo-Abend sorgt. Shirin David etwa eröffnet er: "Du siehst gar nicht aus wie ein Opern-Fan und eine Feministin!" In der schönen, heilen 50er-Jahre-Welt von Frauenrechtler Thomas Gottschalk sehen Feministinnen nämlich ausschließlich so aus wie Alice Schwarzer und Opern-Fans wie Luciano Pavarotti.

Einziger Lichtblick dieser mit "cringe" noch ausnehmend freundlich kommentierten Gesprächssituation bleibt, dass Zoten-Showmaster Gottschalk sich den Satz "Opern-Fan oder Only-Fans, das kann man heute ja kaum noch unterscheiden" spart. Joviales Grinsen und zielgenaue Handlandung auf dem nackten Bein von Shirin David inklusive. Dass Shirin David, anders als Gottschalk es von seinen weiblichen Gästen der letzten vier Jahrzehnte kennt, Kontra gibt, wird der vermutlich langlebigste und wertvollste Moment der Abschiedstour von Thomas Gottschalk bleiben.

Um anekdotisch relevant zu bleiben, tritt dann als einziger internationaler Star Popoma Cher auf. Als sie 1987 in einem Hauch von Nichts erstmals bei "Wetten, dass..?" vorstellig wurde, erhielt das ZDF aufgrund der Protestleserpostmenge eine eigene Postleitzahl, der Vatikan erwog die Spontan-Inquisition Gottschalks und eine ganze Generation 12-Jähriger schlief sehr unruhig ein. 36 Jahre später gibt es für derartige Outfits nur noch maximal 2 von 10 Punkten auf der Emily-Ratajkowski-"Blurred Lines"-Skala. Nur Thomas Gottschalk skandalisiert noch ein wenig durch die Gegend.

Das Ende einer Ära

Warum Gottschalk spätestens in den letzten 20 Jahren nicht mehr unbedingt als der familientauglichste Showmaster der Nation galt, dokumentiert sein Kommentar zum 14-jährigern Felix Mayr, der die zweite Wette vorträgt: "Du bist zwar am Rollstuhl gefesselt, aber du bist trotzdem ein lustiges Kerlchen." Vielleicht ist nicht jedes Ende einer TV-Ära ein entertainmentpolitischer Trauerfall.

Am Ende eines langen, aber für Gottschalk-Verhältnisse moderat überzogenen abends wird klar: Anders als beim seit 20 Jahren regelmäßig mit Abschieds-Konzerten auf Tour gehenden Howard Carpendale scheint es als absolut gesichert, dass Gottschalk nicht als "Wetten, dass..?"-Moderator zurückkehren wird. In seiner mit vielen Anekdoten gespickten Finalsendung wird jedoch ausgerechnet die legendäre Saalwette weggelassen. Dabei wurden aus dem Publikum hervorragende Vorschläge eingereicht. Ein Beispiel: Christian Lindner aus Wuppertal wettet, er könne das 60 Milliarden schwere Haushaltsloch eines berühmten mitteleuropäischen Ex-Industriestandortes nur damit stopfen, dass das ZDF für jede anzügliche Bemerkung von Thomas Gottschalk einen Euro an die Staatskasse überweist.

Passend dazu verabschiedet Gottschalk sich von seinem Publikum mit einem beinahe verbitterten Plädoyer gegen zu viel Wokeness. Er dürfe im Fernsehen heutzutage nicht mehr das sagen, was er zu Hause auch sagen würde. Es wäre also Zeit zu gehen. Zum Abschied weht ein Hauch Cancel Culture durch die Baden-Arena in Offenburg. Passend zu seinem Lieblingshobby (baggern, haha) karrt das ZDF Thomas Gottschalk nach seiner Goodbye-Show mit einem Bagger aus dem Studio. Frank Elstner hält eine Art Grabrede, Mike Krüger winkt vom Bagger.

Gottschalk stellt sich auf die Baggerschaufel und gleitet in fünf Meter Höhe aus der Halle. Kurz und schmerzlos ertönt ein letztes Mal die Eurovisionshymne, meine Schwester und ich räumen Pizzareste zusammen und versenken sie im Biomüll, so wie Thomas Gottschalk heute Abend unsere verklärten Erinnerungen an ein "Wetten, dass..?" als Familienevent zum Recyclinghof moderiert hat. Früher war vieles besser, aber nicht alles. Und manche Erinnerungen kann man nicht wiederbeleben, egal wie sehr man es sich wünscht.

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