Die deutschen Handballer haben einen Traumstart in die Heim-EM erwischt. Vieles war schon stimmig, von einem möglichen Wintermärchen wollten die Spieler aber noch nichts hören.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Das Stadion vibrierte, es bebte geradezu. 53.586 Zuschauer sangen, klatschten, sie feierten ausgelassen. Es gab Standing Ovations, La-Ola-Wellen, Gänsehaut. Und mittendrin in dem ganzen Trubel wusste Bundestrainer Alfred Gislason natürlich, bei wem er sich vor allem zu bedanken hatte. Er nahm Andi Wolff in den Arm, bevor der Torhüter als Spieler des Spiels ausgezeichnet wurde. Denn der 32-Jährige hatte seine Arbeit zuvor auf Weltklasse-Niveau abgeliefert. Es war aber noch mehr: Wolff war so etwas wie der Dosenöffner für einen Start nach Maß in die Heim-EM. Denn das 27:14 gegen die Schweiz war nicht einfach nur ein Auftaktsieg. Es war ein Statement, das Hoffnung macht auf ein neues Handball-Wintermärchen.

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Die Vorfreude war in Düsseldorf rund um das Fußballstadion bereits im Vorfeld des so wichtigen Weltrekordspiels zu spüren, zu hören, zu greifen. Mit der Euphorie griff aber auch ein Stück weit Nervosität um sich, Unsicherheit. Der Druck, der auf der Mannschaft lastete und die hohen Erwartungen sorgten für die bange Frage: Ist der Auftakt Last oder Lust? Etwaige Bedenken wischten Wolff und Co. aber ebenso schnell wie beeindruckend weg.

Mit frühen, starken Paraden holte Wolff das Publikum ab, sorgte für Jubelstürme auf den Rängen und Sicherheit bei seinen Vorderleuten. Als Spielmacher Juri Knorr nach 49 Sekunden den Ball in den Winkel schweißte, kochte das weite Rund bereits. Nervosität wechselte zu Souveränität.

Wolff: Dickes Lob an die Teamkollegen

Ähnlich abgeklärt wie auf der Platte zeigte sich Wolff dann auch nach der Partie, in der er unfassbare 61 Prozent der Bälle hielt. "Die Jungs haben die Atmosphäre hier fantastisch umgesetzt, wirklich sehr couragiert von Anfang an in der Abwehr gestanden und mir das Spiel als Torhüter sehr versüßt", sagte Wolff im ZDF. "Insgesamt bin ich sehr, sehr glücklich mit dem Auftritt der Mannschaft und ich denke, auf dem können wir durchaus aufbauen."
Der erfahrene Keeper stand damit stellvertretend für eine Mannschaft, die sich von der Stimmung anschieben und immer weiter antreiben ließ, aber danach auf dem Boden blieb.

Auch wenn sich Wolff Lobhudeleien wie von seinem Teamkollegen Knorr ("Das war von einem anderen Stern") vollkommen verdient hatte. ZDF-Experte Markus Baur meinte sogar, wenn Wolff so weiterhalte, sei bei diesem Turnier alles drin. "Natürlich widerspricht man einem Ex-Weltmeister nicht", sagte Wolff. Tat es dann aber doch teilweise, indem er die Euphorie ein wenig ausbremste.
Was angesichts der beiden noch anstehenden Gruppenspiele gegen Nordmazedonien am Sonntag und zwei Tage später gegen Rekord-Weltmeister Frankreich wohl die richtige Herangehensweise ist, auch wenn nach Nordmazedoniens Niederlage ein Sieg am Sonntag zum Einzug in die Hauptrunde reichen könnte. "Die nächsten Spiele werden sehr, sehr viel schwieriger", mahnte Wolff. "Gerade die Nordmazedonier werden mit ihrer Spielweise überhaupt nicht das spielen, was wir gerne sehen wollen. Und die Franzosen sind eine Weltklasse-Auswahl. Von daher denke ich, dass wir gut daran tun, das Positive mitzunehmen und dann bestmöglich umzusetzen in den nächsten Spielen."

Trotzdem steht das sportliche Ausrufezeichen, verbunden mit einem stimmigen Stimmungsvorgeschmack, als Ansage an die Konkurrenz. Dieser Start als Defensivverbund sei dann auch "respektgebietend", so Wolff.

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Da schwärmt sogar der Bundestrainer

Bei der ganzen Gemengelage geriet auch der sonst etwas knorrige Bundestrainer ins Schwärmen. Während die Fans noch lautstark feierten, ließ Gislason das Erlebte ein wenig sacken. "Natürlich ist das ein Erlebnis, auch für einen alten Trainer wie mich. Mit über 53.000 Zuschauern im Rücken war das eine phänomenale Werbung für unseren Sport. Und ich bin extrem stolz, dass ich dabei gewesen bin", sagte er.

Gleichzeitig lobte der 64-Jährige die Einstellung und die Leistung seiner Mannschaft in höchsten Tönen. In der Tat war die Abwehr in Kombination mit Wolff herausragend, dazu sehr beweglich, wobei sie den Ballgewinn immer wieder forcierte und die Schweizer so auf Dauer entnervte. "Ich glaube, wir kassieren in knapp 20 Minuten ganze zwei Tore. Ich bin natürlich sehr erleichtert, dass diese Leistung in einem so wichtigen Spiel kam", so Gislason: "Und Andi ist natürlich in so einer Form kaum zu überwinden."

Die besten Torschützen Knorr (sechs Tore), Julian Köster und Justus Fischer mit je drei Treffern und ihre Mitspieler lieferten mit spektakulären Toren die weiteren Zutaten für große Träume. Denn während die Deutschen in der Vergangenheit gerne mal einen Gang zurückschalteten und Spiele so noch ungewollt spannend machten, blieben sie in der zweiten Halbzeit auf dem Gaspedal. Daneben zeigte das Team ein laut Gislason "phänomenales Rückwärtsverhalten. Das hat uns extrem geholfen. Wir haben gefühlt acht Bälle zurückgeholt, die zuvor verloren gegangen sind". Die imposante Dominanz gegen die Schweizer erlaubte es dem Isländer, am Ende durchzuwechseln. So konnte sich das ganze Team zeigen, Impulse setzen und gute Aktionen mit in das weitere Turnier nehmen. "Das war richtig schön, das hilft mir natürlich extrem, zu wissen, dass sie jederzeit reinkommen können", sagte Gislason.

Die Euphoriewelle ist ein schmaler Grat

Sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zeigte sich nach dem Traumstart euphorisiert, er "hätte gegen ein Wintermärchen, das heute beginnt, gar nichts einzuwenden. Und ich finde, es hat gut begonnen", sagte er. Doch es ist immer auch ein schmaler Grat, die Euphoriewelle zu reiten, ohne den Halt zu verlieren. "Warum nicht den Schwung jetzt mitnehmen?", fragte Rune Dahmke: "Darauf kommt es an, wenn du zwei Wochen irgendwie performen musst, dass du so eine Welle erwischst und genau die versuchen wir jetzt irgendwie zu kriegen. Heute war ein famoser Start."

Der Tenor des Abends: Ein famoser Start, mehr aber auch erst einmal nicht. Denn auf dem Weg nach Berlin, wo die beiden weiteren Gruppenspiele stattfinden, wird Gislason Analyse betreiben. Das Überzahlspiel bereitet ihm Magenschmerzen. "Das war wirklich sehr schlecht", kritisierte er. Wichtig ist, diese Fehler zu minimieren, denn mit weiterem Verlauf des Turniers werden gegen stärkere Gegner die Spiele enger, und dann können solche Unkonzentriertheiten teuer werden. "Unsere Hoffnung ist, dass wir uns von Spiel zu Spiel ein bisschen steigern können. Das wird extrem nötig sein", betonte Gislason. Damit in den nächsten Spielen auch die Hallen beben.

Verwendete Quelle

  • TV-Übertragung ZDF
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