Die Engländerinnen setzen sich im Halbfinale der WM verdient mit 3:1 gegen die Australierinnen durch und zeigen dabei, dass sie das etwas reifere Team sind. Für Englands Trainerin Sarina Wiegman gibt es aber trotz der souveränen Leistung Analysebedarf.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Justin Kraft sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Sieben Minuten waren gespielt und die Hoffnungen auf ein australisches Märchen entflammten im Accor Stadium in Sydney. Erstmals war Sam Kerr frei durch. Die Riesenchance auf eine frühe Führung. Doch sie scheiterte an Englands Torhüterin Mary Earps. Und am Abseits.

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Hier ein paar Zentimeter, dort ein paar – was zunächst furios für Australien begann, entpuppte sich schnell als Spiel, in dem zu viel nicht passen sollte, um den letzten Schritt ins Traumfinale gehen zu können. England war schlicht den entscheidenden Tick stärker. Nicht über die volle Distanz, aber mindestens in den entscheidenden Phasen.

Eine wilde Anfangsphase wusste das Team von Trainerin Sarina Wiegman schnell zu beruhigen. Wie schon bei der Heim-EM vor einem Jahr verstehen es die Engländerinnen gut, das Tempo selbst zu diktieren. Ball und Gegner laufen lassen, wenn es notwendig ist. Schnell und direkt in die Spitze spielen, wenn es sinnvoll ist.

Englands Rhythmuswechsel zermürben Australien

Es sind diese Rhythmuswechsel, mit denen viele Gegner nicht umgehen können. Sie lassen England in einigen Momenten angreifbar wirken. Doch schon im nächsten Augenblick schlagen sie eiskalt zu. Gegen Australien zeigten sie diese Qualität wie in vielleicht keinem anderen Spiel zuvor.

In den bisherigen Spielen fokussierte sich England meist auf den rechten Flügel und die dortigen Halbpositionen, um in den Strafraum vorzudringen. Gegen Australien machte Wiegman offenbar die rechte australische Defensive als Schwachpunkt aus. Ella Toone sollte diesmal im linken Halbraum als Verbindungsspielerin agieren – und löste das hervorragend.

Immer wieder tauchte sie zwischen den Linien auf und brachte den australischen Defensivblock damit in Bewegung, während Lauren Hemp, Alessia Russo und Rachel Daly versuchten, die entstehenden Räume zu finden und zu nutzen. Auch das Führungstor entstand über den linken Flügel, als Toone im Rücken aller nachrückte und den Ball ansatzlos im Winkel versenkte.

Australien verteidigte weitestgehend robust und konsequent, machte es den Engländerinnen schwer, doch es gab einige Momente, in denen sie mit dem englischen Tempo überfordert waren. Die ständige Beschäftigung in der eigenen Abwehr führte auch dazu, dass offensiv nach der Abseitsszene zu Beginn wenig ging.

Vier magere Abschlüsse hatte Australien im ersten Durchgang, drei davon von Gegenspielerinnen geblockt. England spielte geduldig, ohne mit zu viel Risiko zu agieren. Durch das kluge Positionsspiel, die langen Ballbesitzphasen und den einen oder anderen gezielt ausgespielten Angriff hatte man Australien souverän an der langen Leine. Nur die verpasste Großchance von Georgia Stanway in der Anfangsphase trübte den Auftritt etwas.

Australien antwortet auf englische Führung

Denn auch den Engländerinnen war klar, dass Australien etwas tun musste. "Wir haben gut verteidigt, aber uns fehlte etwas Mut im Spiel nach vorn", erklärte Trainer Tony Gustafsson hinterher in der ARD. Das wollte er in der Pause ändern. Immer wieder gestikulierte der Schwede am Spielfeldrand. Wie seine Spielerinnen versuchte er alles, um sich gegen die englische Überlegenheit zu wehren.

Und so startete Australien offensiver in den zweiten Durchgang. Tatsächlich schafften es die "Matildas", erstmals signifikante Spielanteile auf ihre Seite zu ziehen und das Spiel etwas offener zu gestalten. Die englischen Spielzüge über die linke Seite verpufften zunehmend. Australien war in den Halbräumen wacher und schneller an den Gegenspielerinnen.

So auch in der 63. Minute, als Russo auf der halblinken Seite aufdrehen wollte und sofort gestört wurde. Australien schaltete schnell um, England war zu weit aufgerückt und Sam Kerr schraubte doch noch am Märchen, an das eine ganze Nation wieder glaubte: Ihr wunderschöner Schlenzer war für Earps auch deshalb kaum zu parieren, weil die Torhüterin einen schlechten Stand hatte.

England abgezockter und souveräner als Australien

Für England begann nun die kritischste Phase. Hatten sie selbst in Australiens Drangphase zuvor noch alles im Griff, fingen sie nun an zu schwimmen. Mit 75.000 Zuschauerinnen und Zuschauern und dem Ausgleich im Rücken kippte das Momentum für die "Matildas". Ein grandioses Beispiel dafür, wie unkalkulierbar Fußball manchmal sein kann.

Doch Australien verpasste es, direkt nachzulegen. Und schenkte England den abermaligen Führungstreffer. Die über das ganze Spiel unglücklich wirkende Ellie Carpenter verstolperte einen sicher geglaubten Ball und Hemp musste nur noch abstauben.

Statt England etwas kommen zu lassen und zu kontern, musste Australien wieder selbst aktiv werden. Es entstand ein offener Schlagabtausch, der in beide Richtungen hätte kippen können, letztendlich aber England als abgezockten und souveränen Sieger hervorgehen ließ. Russo setzte den Schlusspunkt zum 3:1.

England nicht fehlerfrei: Das muss zum Finale besser werden

Für Wiegman bleibt die Erkenntnis, dass ihr Team sich innerhalb des Turniers gesteigert hat. Gegen starke Australierinnen vor einer derartigen Kulisse über weite Strecken so kontrolliert aufzutreten, ist respektabel. Die Art und Weise der Reaktionen auf die verschiedenen Spielphasen ebenso.

Letztendlich wären die Details entscheidend gewesen, meinte Australiens Trainer Gustafsson. Das mag stimmen, hatte doch ausgerechnet Kerr noch die Riesenchance zum 2:2 liegen gelassen. Doch am Ende hat nicht nur das reifere Team gewonnen, sondern auch jenes, das auf Rückschläge und Entwicklungen die besseren Antworten parat hatte.

Und doch wird England auch im Finale nochmal einen weiteren Schritt nach vorn machen müssen. Gerade weil man in der Schlussphase trotz Führung einige Chancen zuließ und etwas Nervosität zeigte. Gegen Spanien werden die "Three Lionesses" häufiger unter Druck stehen.

Australien wiederum war ein verdienter Halbfinalist. Doch für den ganz großen Traum fehlte zu viel. Es bleibt die Hoffnung auf einen versöhnlichen Abschluss am Samstag im Spiel um Platz drei.

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