• Mit Marokko steht erstmals eine Mannschaft aus dem arabischen Raum in einem WM-Viertelfinale.
  • Der Trainer formte in kürzester Zeit eine "Familie", die vor allem mit ihrer defensiven Qualität beeindruckt und der marokkanischen Heimat etwas Zuversicht schenkt.

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Es ist schon jetzt eines der größten Märchen bei der umstrittenen Wüsten-WM 2022 in Katar. Auf dem Rasen des Education City Stadium wechselten sich ungläubiges Staunen und lauter Jubel ab. So ganz konnten es Marokkos Spieler nicht glauben, was ihnen in den 120 Minuten Spielzeit plus Nachspielzeit und Elfmeterschießen geglückt war, als sie den Weltmeister von 2010, Spanien, aus dem Turnier warfen.

Dabei durchschritten sie einen enormen Leidensweg. In der regulären Spielzeit sowie der Verlängerung waren es in den gefährlichen Zonen immer zwei marokkanische Spieler, die einen spanischen Akteur attackierten und so das Endlos-Passspiel der Iberer zum Muster ohne Wert verkommen ließen. Denn nach über 120 Minuten standen zwar über 1.000 Pässe für die Spanier zu Buche, doch eine drückende Überlegenheit konnten sie nicht erzeugen, geschweige denn einen Torerfolg verbuchen.

Stattdessen war es Marokko, das immer wieder gefährliche Nadelstiche durch Konter setzen konnte und gleichzeitig hinten dicht hielt. Die Abwehrarbeit ist zweifelsohne das Prunkstück der Nordafrikaner, die bislang in vier Duellen mit Spanien, Belgien, Kroatien und Kanada gerade einmal ein Gegentor hinnehmen mussten und mit Bono einen der besten Keeper des Turniers in ihren Reihen haben, der dann im Elfmeterschießen zum großen Helden wurde, als er mehrere spanische Elfmeter hielt. Diese defensive Stärke ist, neben der enormen Leidenschaft, das größte Faustpfand von Marokko.

Marokko hat einige Stars von europäischen Topklubs im Kader

Mit Rechtsverteidiger Achraf Hakimi (Paris Saint-Germain) und Linksverteidiger Noussair Mazraoui (FC Bayern München) spielen zwei absolute Topstars auf den defensiven Außenbahnen. Gerade Kapitän Hakimi findet oft das richtige Maß zwischen Angriff und Verteidigung. Zwischen den Pfosten steht Yassine "Bono" Bounou vom FC Sevilla, in La Liga zählt er zu den besten Torhütern überhaupt.

Der wohl größte Star im marokkanischen Team konnte gegen Spanien derweil gar nicht einmal sein volles Können zeigen. Die Rede ist von Hakim Ziyech vom FC Chelsea. Er ist der offensive Anführer der "Löwen vom Atlas", so der Spitzname der Elf aus Nordafrika, ist. Eine Entwicklung, die noch im August undenkbar erschien, schließlich kehrte Ziyech erst im September wieder zur Nationalmannschaft zurück, nachdem es mit Ex-Trainer Vahid Halihodzic zu Verwerfungen gekommen war. Auch Bayern-Profi Mazraoui war eine Zeit lang nicht mehr Teil des Nationalteams unter Halihodzic.

Der bosnische Ex-Coach attestierte Ziyech ein "eines Nationalspielers nicht würdiges Verhalten. Er will nicht trainieren, er will nicht spielen, er ist nicht ernsthaft". Doch in der Bevölkerung wuchs die Unzufriedenheit mit der Arbeit von Halihodzic, und der Verband stellte sich hinter seine Starspieler, sodass im August Walid Regragui das Traineramt in Marokko übernahm und umgehend die ausgebooteten Stars zurückholte. "In der Vergangenheit haben einige Trainer gesagt, alle Spieler sollten gleich behandelt werden", erzählte Regragui nach dem Sieg im Achtelfinale gegen Spanien: "Hakim ist aber nicht irgendein Spieler."

Ziyechs Rücktritt vom Rücktritt im Nationalteam

Ziyech, der zwischenzeitlich bereits seinen Rücktritt aus dem Nationalteam verkündet hatte, kam zurück und ist nun eine der Schlüsselfiguren in Marokkos Elf. "Er strahlt eine positive Energie aus", sagt der Trainer über seinen offensiven Schlüsselspieler. Kapitän Romain Saiss lobt ihn als "starke Persönlichkeit, die nie Probleme mit den Spielern der Nationalmannschaft verursacht hat".

Probleme gab es in der Vergangenheit bei den "Löwen vom Atlas" ohnehin genug. Nur die wenigsten Spieler sind in Marokko geboren und aufgewachsen, die meisten durchliefen ihre Ausbildung in Europa. Hakimi genoss beispielsweise die Nachwuchsausbildung von Real Madrid, entschied sich dann aber für die marokkanische Nationalmannschaft; und Ziyech wurde in den Niederlanden geboren, spielte sogar für die Nachwuchs-"Elftal", nur um sich dann doch für Marokko zu entscheiden.

Einige Fans und Experten bemängelten die fehlende Identifikation mit dem nordafrikanischen Land, auch im Team gab es in der Vergangenheit offenbar immer wieder Streitigkeiten aufgrund der unterschiedlichen Herkunft.

Coach Regragui formt ein Team – unabhängig von der Herkunft

Doch unter Coach Regragui, ein ehemaliger Nationalspieler Marokkos, sind diese Konflikte Vergangenheit. Das Team präsentiert sich als Einheit. "Vor diesem Turnier hatten wir immer große Probleme zwischen den Spielern, die in Marokko geboren wurden, und den Spielern, die im Ausland aufgewachsen sind. Auch ihr Journalisten habt doch immer gefragt: 'Warum lasst ihr die spielen oder die?'", sagte Regragui. "Jetzt haben wir gezeigt: Jeder Marokkaner ist ein Marokkaner. Wir gehören alle zusammen. Ich habe eine außergewöhnliche Gruppe von Spielern. Wir haben aus einem Team eine Familie gemacht." Und Regragui ist gerne mittendrin. Beim Aufwärmen tritt er selbst gerne gegen den Ball oder hält die Kamera, wenn seine Spieler eine Videobotschaft aufnehmen wollen. Außerdem hat er die Spielerfamilien mit ins WM-Camp nach Katar eingeladen, was, anders als beim DFB-Team, offensichtlich ein gelungener Schachzug gewesen ist.

Und ganz nebenbei hat Regragui mit seinem Team Geschichte geschrieben: Noch nie ist ein Nationalteam aus dem arabischen Raum ins WM-Viertelfinale eingezogen – bis Marokko bei der ersten WM in Arabien Spanien schlug und nun im Viertelfinale gegen Portugal steht.

König feiert mit auf den Straßen – 15 Prozent leben unter Armutsgrenze

Eine halbe Milliarde Menschen, die arabische Welt steht nun hinter dem fußballerischen Aushängeschild Marokko und sorgt auch auf den Rängen der Stadien in Doha für seltene Gänsehautstimmung. In der Heimat wollten die Autokorsos nach dem Spanien-Coup gar nicht mehr aufhören, sogar König Mohammed VI. streifte sich ein Trikot der "Löwen vom Atlas" über und ließ sich durch die Straßen der Hauptstadt Rabat chauffieren.

Marokko befindet sich in einer schwierigen Situation. Die diplomatischen Beziehungen etwa zu Deutschland wurden gekappt wegen der unterschiedlichen Haltung im Westsahara-Konflikt. Auch wirtschaftlich und finanziell geht es dem nordafrikanischen Staat alles andere als gut. So leben 15 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze und haben weniger als zwei Dollar pro Tag zur Verfügung. Der Erfolg der "Löwen vom Atlas" kann all diese Probleme nicht vergessen machen, lindert aber zumindest für kurze Zeit das Leid der Menschen in Marokko und lässt den Stolz auf die eigene Nation wachsen. Und gegen eine Fortsetzung des WM-Märchens hätte wohl niemand aus Rabat und Umgebung etwas.

Verwendete Quellen:

  • TV-Übertragung Marokko – Spanien, ARD, 6.12.2022
  • Sport.de: Hakim Ziyech: Vom Ausgebooteten zur Schlüsselfigur
  • Sueddeutsche.de: Dribblings für eine halbe Milliarde Menschen
  • Sport.orf.at: Regragui formt Marokko zu „Familie“
  • SZ.de: Krise zwischen Marokko und Berlin
  • Humanium.org: Kinder aus Marokko und Westsahara
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