Ein VAR-Eingriff in der Nachspielzeit führt in Stuttgart zu einem Foulelfmeter, von dem der Unparteiische später abrückt. Denn der vermeintlich Gefoulte ist auch über den Fuß eines Mitspielers gefallen. Schiedsrichter und Video-Assistentin bewerten diesen Aspekt unterschiedlich.

Alex Feuerherdt, Schiedsrichter
Eine Kolumne
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Es läuft bereits die Nachspielzeit in der Partie zwischen dem VfB Stuttgart und Borussia Mönchengladbach (2:2), da unternehmen die Hausherren beim Stand von 2:1 für die Gäste einen letzten Versuch, doch noch die Niederlage abzuwenden. Sie schlagen den Ball noch einmal hoch vor das Tor der Borussia.

An der Torraumgrenze kommt es zu einem Zweikampf zwischen Saša Kalajdžić und dem Gladbacher Ramy Bensebaini, der den Oberkörper seines Gegners mit den Armen umschließt. Der Stuttgarter sinkt auf den Rasen, doch Schiedsrichter Felix Brych zeigt sofort an, dass es keinen Strafstoß gibt, sondern weitergespielt wird. Die Proteste des VfB gegen diese Entscheidung halten sich in Grenzen.

Für die Video-Assistentin Bibiana Steinhaus jedoch ist das ein klarer und offensichtlicher Fehler. Deshalb rät sie ihrem Kollegen auf dem Spielfeld zu einem On-Field-Review.

Gladbach nicht einverstanden mit Brychs Entscheidung

Brych folgt der Empfehlung und ändert nach dem Betrachten der Bilder seine Entscheidung: Er spricht den Stuttgartern einen Elfmeter zu, den Silas Wamangituka zum 2:2 verwandelt.

Die Gladbacher sind damit gar nicht einverstanden. Jonas Hofmann spricht von einer "absoluten Frechheit", auch sein Mitspieler Christoph Kramer kann und will partout kein Foulspiel erkennen.

Gästetrainer Marco Rose findet Brychs ursprüngliche Entscheidung, weiterspielen zu lassen, zumindest nicht eindeutig falsch. Steinhaus hätte deshalb nach seinem Dafürhalten nicht intervenieren dürfen.

Auch der Schiedsrichter äußert sich gegenüber dem Fernsehsender Sky. Dort lässt er durchblicken, dass er im Nachhinein bei seiner zuerst getroffenen Entscheidung hätte bleiben sollen.

Klammern oder stolpern – was gibt den Ausschlag?

Dieser Sinneswandel hängt damit zusammen, dass Sky ihm Bilder gezeigt hat, die zumindest nahelegen, dass es nicht der Gladbacher Bensebaini gewesen ist, der Kalajdžićs Sturz verursachte, sondern eher der Stuttgarter Waldemar Anton, also ein Mitspieler. Über dessen Fuß stolperte Kalajdžić, was Felix Brych jedoch sowohl in der Echtzeit auf dem Feld als auch beim Review verborgen blieb und worauf er von der Video-Assistentin auch nicht eigens hingewiesen wurde, wie er selbst sagt.

Jetzt, nach dem erneuten Betrachten der Szene, sieht er diesen Fußkontakt jedoch als "mitentscheidend" dafür an, dass Kalajdžić zu Fall kam. Im laufenden Spiel habe er nur die Hände von Bensebaini gesehen, ihm sei das jedoch "vom Gefühl her einen Tick zu wenig" gewesen, um auf Elfmeter zu entscheiden.

Am Monitor ändert er seine Meinung dann aber, bevor er nach Spielende ein weiteres Mal umdenkt. "Bensebaini geht ein hohes Risiko, indem er den Spieler umklammert, aber letztlich gibt es auch noch einen Kontakt vom eigenen Spieler am Fuß", so Brych.

Sein Fazit lautet: "Wenn man den Elfmeter direkt pfeift, muss er akzeptiert werden, mit dem VAR-Eingriff bleiben so aber ein paar Restzweifel."

Das heißt: Die Entscheidung, weiterspielen zu lassen, war nicht eindeutig falsch; das Gleiche wäre aber auch der Fall gewesen, wenn der Unparteiische sofort auf Strafstoß erkannt hätte.

Bensebainis Klammergriff war zwar augenfällig, doch beim Halten kommt es in der Regelpraxis auch auf die Stärke des betreffenden Impulses an und zudem auf die Frage, ob der Gegner dadurch deutlich beeinträchtigt wird. Das war im Zweikampf mit Kalajdžić eine Ermessenssache.

Für die Video-Assistentin liegt ein klarer Fehler vor

Die Video-Assistentin Bibiana Steinhaus hat die Szene jedenfalls anders beurteilt. Den Fußkontakt von Kalajdžić mit seinem Mitspieler Anton habe sie zwar gesehen, sagt Jochen Drees, der Projektleiter des DFB für die Video-Assistenten, in der Talksendung "Sky90". Doch für Steinhaus sei "das Umklammern der zu priorisierende Aspekt und unbedingt ahndungswürdig" gewesen, so Drees. Dass Kalajdžić über die Füße seines Teamkollegen gestolpert sei, habe sie erkannt, "aber nicht als das relevante Merkmal der Szene ausgemacht".

Den Referee habe sie daher auch nicht darauf hingewiesen, was der Projektleiter kritisch sieht: "Es wäre besser gewesen, diesen Aspekt im Bild zu demonstrieren, damit Brych dies noch einmal für sich hätte bewerten können."

Wenn man ihm die Szene als Ganzes gezeigt hätte, dann "hätte man den Hergang mit allen Aspekten noch einmal darstellen können" – und dann hätte "wohl keine glasklare Fehlentscheidung" vorgelegen.

Vielmehr gebe es Argumente "für und gegen einen Strafstoß", weshalb Jochen Drees die letztgültige Entscheidung für vertretbar hält. Aber zufrieden ist er nicht mit dem Ablauf. "Wir versuchen, das nachzubereiten und uns vorzubereiten, sodass wir das demnächst besser machen."

Am Ende bleibt eine Meinungsverschiedenheit zwischen zwei erfahrenen Unparteiischen festzuhalten. Sie waren sich uneins über die Gewichtung von Aspekten einer ziemlich komplexen Spielszene. Diese Gewichtung aber entschied darüber, ob ein Eingriff aus Köln erforderlich ist – und wie die endgültige Entscheidung ausfallen sollte.

Letztlich spricht allerdings doch mehr dafür, Brychs instinktiv getroffene Entscheidung auf dem Feld zumindest nicht abwegig zu finden. Dennoch ist es, wo Menschen urteilen und das Ermessen eine Rolle spielt, eben nicht immer klar und offensichtlich, was klar und offensichtlich ist.

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