Borussia Dortmund stellt sich auf seiner Führungsebene völlig neu auf. Die neue Struktur bringt zwei alte Bekannte in wichtige Rollen und lässt eine frische Ausrichtung erahnen. Und sie erklärt unfreiwillig auch eine andere ambitionierte Führungskraft zum großen Verlierer der Rochade.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Am Montagmorgen um 10:35 Uhr hatte das wochenlange Rätselraten endlich ein Ende: In einer Adhoc-Meldung teilte Borussia Dortmund mit, seinen "Geschäfts- und Unternehmensbereich" neu zu strukturieren.

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"Der Präsidialausschuss des Beirates der Borussia Dortmund Geschäftsführungs-GmbH unter Vorsitz des BVB-Präsidenten Dr. Reinhold Lunow hat beschlossen, die Geschäftsführung um eine Position zu erweitern. Lars Ricken (47), seit dem 1. Januar 2021 Direktor Nachwuchsleistungszentrum, wird ab dem 1. Mai 2024 als Geschäftsführer Sport fungieren und den sportlichen Bereich des achtmaligen Deutschen Meisters verantworten", hieß es darin unter anderem.

Mislintat kehrt zum BVB zurück

Rickens Vertrag ist bis zum Juni 2027 datiert und hat damit jene Laufzeit wie die der anderen Geschäftsführer Carsten Cramer (Vertrieb & Marketing, Internationalisierung, Digitalisierung) und Thomas Treß (Finanzen, Organisation, Recht & Investor Relations), die ihre Kontrakte zuvor entsprechend verlängert hatten.

Dazu kehrt Sven Mislintat als Technischer Direktor zum BVB zurück und soll sich ebenfalls schon ab dem 1. Mai mit dem Schwerpunkt "Kaderplanung" befassen. Die Borussia hat also einen durchaus turbulenten Wochenstart hingelegt – aber was bedeutet der nun für die Neuausrichtung des Klubs und die einzelnen Personen?

Rickens Berufung als Geschäftsführer überrascht

Die vorzeitigen Vertragsverlängerungen von Cramer und Treß waren im Prinzip eine reine Formsache, lediglich der Zeitpunkt kam vielleicht etwas überraschend. Der eigentliche Knalleffekt war der Bestellung von Lars Ricken zum dritten Geschäftsführer und damit sportlich wichtigsten Person im Klub vorbehalten.

Seit Hans-Joachim Watzke im Januar seinen Rückzug zum Herbst 2025 angekündigt hatte, schossen die Spekulationen um dessen Nachfolge und damit verbundene weitere Personalentscheidungen ins Kraut. Lange Zeit galt Sportchef Sebastian Kehl als aussichtsreichster Kandidat, zwischenzeitlich wurde auch über eine externe Lösung wie den Frankfurter Markus Krösche spekuliert – oder sogar eine Beförderung des externen Beraters Matthias Sammer. Und es gab Spekulationen über Mislintat als höchste Stelle in der Führungsriege.

Kaum Beachtung und weitgehend unter dem Radar blieb die ganze Zeit dagegen Lars Ricken. Dabei gab es zuletzt immerhin einen kleinen Hinweis darauf, dass sich für den 47-Jährigen schon bald etwas grundlegend ändern könnte.

Viele Veränderungen auch im Nachwuchsbereich

Vor wenigen Tagen sickerten erste Meldungen durch, dass Thomas Broich ab dem Sommer ins Dortmunder Nachwuchsleistungszentrum wechseln wird. Bisher war der ehemalige Bundesligaprofi als "Leiter Methodik" bei Hertha BSC angestellt und ist aktuell in Elternzeit.

Broich könnte einer der Nachfolger Rickens als Direktor am NLZ werden oder eine andere übergeordnete Position einnehmen. Etwa die des im Sommer scheidenden Otto Addo. Der aktuelle Toptalente-Trainer wird seine Stelle beim BVB aufgeben und die Nationalmannschaft Ghanas übernehmen. Es wird also wohl mindestens noch eine tragende Figur gesucht, die im Nachwuchsleistungszentrum Rickens hervorragende Arbeit fortsetzt.

Chancen und Risiken für Ricken

Für die BVB-Ikone ist der Sprung aus dem NLZ ganz an die Spitze der sportlichen Verantwortung durchaus beachtlich und auch herausfordernd. Bisher konnte Ricken eher im Hintergrund agieren, wählte seine öffentlichen Auftritte explizit und stand als Chef der Nachwuchsabteilung allenfalls in der zweiten Reihe. Das wird sich in wenigen Tagen schon grundlegend ändern: Dann wird Ricken auch Gesicht zeigen müssen, in der ersten Reihe agieren und auch zu unangenehmen Themen Stellung nehmen.

"Ich bin überzeugt, dass wir mit der unfassbaren Kraft dieses Vereins und der Leidenschaft unserer vielen motivierten Mitarbeiter gemeinsam große Siege erringen und Borussia Dortmund in eine erfolgreiche Zukunft steuern werden", wird Ricken in der Mitteilung zitiert. Die unfassbare Kraft und viele motivierte Mitarbeiter allein werden den BVB aber nicht auf Kurs bringen oder halten.

Neue Transferstrategie mit Ricken und Mislintat?

Mit Rickens Installation und der gleichzeitigen Rückkehr von Mislintat als Talentespäher scheint die Ausrichtung für die kommenden Jahre klar: Der BVB wird den Fokus wieder verstärkt auf gleichermaßen hochbegabte wie entwicklungsfähige Spieler legen. Eine Strategie, die besonders in den 2010er-Jahren voll aufging, und der Borussia neben einigen sportlichen Erfolge auch jede Menge Geld in Form von satten Transfererlösen in die Kasse spülten.

Zuletzt wurde diese Ausrichtung ein wenig aufgeweicht, auf dem Transfermarkt gerne auch etwas erfahrenere Spieler aus der Bundesliga zusammengekauft.

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Der Begriff von "Borussia Deutschland" machte nicht umsonst die Runde und tatsächlich tummeln sich im aktuellen Kader gleich zehn Spieler mit DFB-Ambitionen oder -Vergangenheit. Die Gegenwart aber wies zuletzt nur noch Niclas Füllkrug als Nationalspieler aus, zumindest war der Angreifer der einzige Borusse bei den letzten beiden Länderspielen vor der EM-Kadernominierung.

Mit Ricken und Mislintat sollen nun die beiden wichtigen Zweige der eigenen Talenteförderung und des externen Zukaufs von ausländischen Nachwuchskräften wohl wieder ins Zentrum vieler Überlegungen rücken. Die Idee von der ersten Ausbildungsadresse Europas für junge Spieler dürfte schon bald wieder aufblühen.

Kehl ist der große Verlierer der BVB-Rochade

Dass Ricken sowohl mit Cheftrainer Edin Terzic als auch mit Berater Sammer, auf den durchaus auch ein etwas angepasstes Aufgabengebiet warten könnte, im besten Kontakt steht, dürfte den Start relativ geschmeidig machen. Und auch Terzic' Status als Trainer für die kommende Saison trotz aller Probleme und auch Spannungen in dieser Spielzeit festigen.

BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl.
BVB-Sportdirektor Sebastian Kehl. © IMAGO/nordphoto GmbH/Christian Schulze

Zumal der Cheftrainer in Ricken dann schon bald eine übergeordnete Anlaufstelle hat. Bisher waren Terzic und Sportchef Kehl das sportlich verantwortliche Gespann, das offenbar nicht immer frei von Meinungsverschiedenheiten und Reibung agierte. Dass Kehl der Aufstieg auf Geschäftsführerebene verwehrt bleibt, obwohl sich der 44-Jährige in den letzten Monaten verstärkt auch selbst ins Gespräch gebracht und sein Territorium abgesteckt hatte, birgt eine gewisse Brisanz.

Kehl geht eindeutig als Verlierer der Entscheidungsfindung hervor. Das hatte sich zuletzt ein bisschen angedeutet, beschneidet Kehl aber zumindest von außen betrachtet einiger seiner Kompetenzen.

Mislintat soll schnell den Kader für kommende Saison zusammenstellen

Mit Mislintat kommt ein ausgewiesener Transferexperte, der einen guten Draht zu Terzic pflegt und dem ein untrügliches Auge für junge Spieler und ein herausragendes Netzwerk bescheinigt werden – und der nun so schnell wie möglich direkt in die Kaderplanung für die kommende Saison einsteigen soll. Bisher war dafür federführend Kehl in der Verantwortung.

Und mit Ricken gibt es eine höher gestellte Instanz, an die Kehl auch wird berichten müssen. Der Sportchef wird in Zukunft wieder mehr delegieren, Verantwortung abgeben und zwischen Ricken und Mislintat seinen Platz erst noch finden müssen. Sein Profil wird alsbald etwas oder sogar deutlich anders definiert werden.

Offenbar waren die Verantwortlichen jedenfalls noch nicht so weit, Kehl den Sprung nach nur zwei Jahren als Sportchef direkt in die nächsthöhere Ebene zuzutrauen. Wie Kehl selbst nun damit umgeht, wird eine der spannenden Fragen der nahen Zukunft sein. In gut einem Jahr läuft sein Vertrag als Sportdirektor aus.

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