Wie bleibt man als Abo-Meister hungrig? Wie speziell ist die mentale Situation beim FC Bayern im Moment und wie geht man das an? Und wie lernen es Sportler, besser mit Niederlagen umzugehen? Unter anderem darüber haben wir uns mit der Paracycling-Athletin Denise Schindler unterhalten.

Ein Interview

Denise Schindler, wie weit sind Motivation und mentale Stärke erlernbar? Oder hat jeder Mensch in dem Bereich Grenzen?

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Denise Schindler: Keine Frage: Wir alle tragen eine Veranlagung in uns als Mensch. Die gute Nachricht ist aber: Jeder kann an seiner Resilienz sowie seiner Motivation arbeiten. Auch Weltmeister sind nicht jeden Tag motiviert. In der täglichen Routine des Trainings ist einfach viel Disziplin und Commitment gefragt. Ein Weltmeister legt jeden Tag eine Disziplin an den Tag, arbeitet akribisch seine Einzelaufgaben ab, immer mit dem Ziel vor Augen, was er als Nächstes erreichen will. Dieses Ziel hilft genau an den Tagen, an denen man eben nicht so motiviert ist, dranzubleiben, seinen Fokus beizubehalten und ganz besonders dann, wenn es eben nicht nach Plan läuft. Darüber hinaus gibt es aber noch diese große Motivation, also die Frage, ob man ganz grundsätzlich noch das Feuer spürt für seine Berufung. Ist diese Leidenschaft noch da? Diese Motivation muss man sich dann manchmal auch aus anderen Bereichen holen.

Wie aufwändig ist das?

Jeder von uns braucht immer wieder neue Impulse von außen, durch neue Herausforderungen, über neue Ziele, über andere Trainingsgestaltungen, die außerhalb der eigenen Komfortzone liegen. Hier empfehle ich jedem, sich aktiv einen Mentor zu holen, der das Potenzial in uns erkennt. Wir Athleten haben dafür Coaches. Unsere Trainer setzen uns immer wieder neue Ziele und zeigen uns neue Wege auf, wenn wir als Athlet vermeintlich auf der Stelle treten. Dass man ganz grundsätzlich die Motivation nicht immer nur bei sich selber finden kann, ist etwas, das man sich eingestehen darf. Dabei darf man sich selbst auch mal ruhig Ziele außerhalb des Normalen, sprich was jeder von außen nicht erwarten würde, setzen.

Das bedeutet?

Natürlich ist es das Ziel eines Leistungssportlers, zum Beispiel eine Goldmedaille zu holen. Aber wenn du schon lange erfolgreich bist, brauchst du manchmal andere Ziele, die dich aus der Reserve locken. Bei mir war es zum Beispiel für die Paralympics in Tokio keine Goldmedaille, denn mich hat es gereizt, eine Zeit zu schaffen, die vorher noch nie eine Frau in meiner Klasse geschafft hat. Ich habe zwei Jahre lang am Handy die Zahl 3-5-9-5-9 gehabt, also 3:59,59 Minuten. Diese Zahl hat mich total motiviert. Wir neigen gerne dazu, uns Ziele zu setzen, die andere von uns erwarten, aber die nicht authentisch und ehrlich unsere eigenen sind. Kommen Ziele aber nicht aus unserem Inneren, können sie uns logischerweise auch nicht motivieren, ganz im Gegenteil: Sie setzen uns nur unter Druck.

Warum ist eine Zeit motivierender als eine Goldmedaille?

Zu dem Zeitpunkt war ich bereits eine erfahrene Athletin, hatte schon einige Weltmeisterschaften gewonnen. Eine weitere Goldmedaille wäre dahingesagt gewesen. Die Zeit von unter vier Minuten auf drei Kilometern in der Verfolgung hat mich wirklich nochmal dazu bewegt, zwei Jahre lang jeden Stein umzudrehen und dranzubleiben, auch als es sehr, sehr schwierig wurde. Knapp zwei Wochen vor den Paralympischen Spielen hatte ich einen schweren Sturz. Kurz: Es war nicht klar, ob ich überhaupt nach Tokio fliegen kann. Als ich dann mit Schwellungen und blauen Flecken im Krankenhaus lag, habe ich wieder diese Zahl hinten am Handy gesehen und ich wusste: Aufgeben ist keine Option. Ich habe dann wirklich jeden Tag das Möglichste gemacht, um diesen Traum zu erreichen.

Sie haben Ihren eigenen "Wow"-Moment mit 18 in einem Fitnessstudio erlebt. Wie kam es dazu, dass damals in gewisser Weise der Knoten geplatzt ist?

Das war ein ganz wichtiger Wendepunkt. Als ich am Spinning-Rad saß, hat es Klick gemacht. Ich habe meine Leidenschaft im Leben gefunden: das Radfahren. Wenn du etwas findest, für das du brennst, bist du bereit, die extra Meile zu gehen. Es entstehen neue Wege und neue Ziele. Genau die brauchen wir, um erfolgreich zu werden. Ich sage immer: Lieber hast du 20 Ziele und erreichst vielleicht nicht alle, als wenn da ein weißes Blatt Papier vor dir liegt, denn dann wirst du keine Motivation finden. Motivation kommt einher mit einer Vision.

Ein wichtiges Thema ist es auch, wie man als Sportler im Erfolgsfall "hungrig" bleiben kann? Wie gelingt das neben neuen Zielen?

Das schafft man, indem man immer wieder auch Abstand gewinnt. Als ich Weltmeisterin geworden bin, ging es darum, auch mal vom Fahrrad runterzugehen, damit der Körper sich erholen kann. Aber auch, um in sich zu gehen und zu spüren, ob man es noch will. Dann muss man ganz ehrlich zu sich selbst sein. Bin ich bereit, alles, was dazugehört, noch mal zu geben? Bin ich bereit, selbstkritisch zu bleiben? Die größte Gefahr ist, zu glauben, dass man weiß, wie es läuft. Wer sich als Team nicht mehr kritisch hinterfragt, was man noch besser machen kann, wird über kurz oder lang sein Niveau nicht halten können. Es ist eine große Kunst, immer wieder in sich hineinzuhorchen, sich mit dem Trainer auf den Prüfstand zu stellen. Dafür benötigt man ein Team, das immer wieder neue Impulse gibt, offen und ehrlich zusammenarbeitet. Weltmeister wird man nie alleine. Nur mit einem guten Team, das ehrliches Feedback gibt, das immer wieder reflektiert mit dir, schaffst du es an die Spitze und immer wieder, neue Ziele anzugehen.

Sie halten Vorträge zum Thema Resilienz, Durchhaltevermögen und mentale Stärke. Sie haben auch ein Buch geschrieben mit dem Titel "Vom Glück, Pech zu haben". Wie kommt man zu so einem Mindset?

Indem man aktiv an sich arbeitet und immer wieder schaut, wie die eigene innere Einstellung ist. Von der inneren Einstellung ist im Grunde alles abhängig. Wie schaue ich auf herausfordernde Momente, auf Rückschläge? Will ich Positives sehen und mitnehmen? Oder will ich anderen dafür die Schuld in die Schuhe schieben? Die richtige innere Einstellung ist eine aktive Entscheidung. Das bedeutet natürlich viel innere Arbeit, aktives Tun und immer mal wieder den ehrlichen Blick in den Spiegel, ob man gerade auf dem richtigen Weg ist oder sich vielleicht korrigieren muss. Die innere Einstellung ist wie ein Kompass, bei dem die Nadel immer ein bisschen hin und her schwingt, je nachdem, was gerade auf einen einwirkt. Wir haben es nicht immer in der Hand, mit welchen Herausforderungen wir konfrontiert werden, aber immer, wie wir darauf reagieren.

"Ein unheimlicher Druck" beim FC Bayern

Ein konkretes Beispiel ist der FC Bayern. Die werden jedes Jahr Meister und gehen mit so einem Titel anders um als andere Mannschaften…

Die Erwartungshaltung an den FC Bayern ist eine ganz andere als an jeden anderen Verein. Jeder andere Klub, der mal kurz an der Tabellenspitze ist, wird gefeiert, bei den Bayern wird es vorausgesetzt. Ein unheimlicher Druck. Jetzt hast du zwei Möglichkeiten: Entweder schirmst du dich davon ab, machst es wie Thomas Tuchel, bist dann eben nicht in den sozialen Medien und verfolgst keine Berichterstattung. Oder du nimmst es als deinen Motivator. Negative Stimmen können unheimlich zusammenschweißen. Nach dem Motto: Wir gegen den Rest der Welt. Das kann man in Motivation umsetzen.

Und wie hält man so einen Abo-Meister hungrig?

Indem man die Ziele ehrlich definiert und auch Spieler individuell definiert. Sie müssen als Mannschaft funktionieren, aber die Motivation ist bei jedem eine andere. Hier würde ich tatsächlich individuell arbeiten und dann ein großes Ganzes schaffen. Das Ziel sollte sein, Spaß am Spiel zu haben und den Gegner auszutricksen. Back to the Roots sozusagen. Natürlich ist es das Ziel des Klubs, Meister zu werden, aber vielleicht muss man es wieder herunterbrechen: Spaß am Spiel, Spaß beim Kampf um den Ball, wieder dahin zurückzukommen, warum jeder mit dem Fußballspielen angefangen hat.

"Genau das brauchen wir gerade im Land: ein Sommermärchen."

Denise Schindler, Paracycling-Athletin

Wie würden Sie da mental ansetzen?

Was mir bei den Interviews aufgefallen ist: Dass es im Training gut klappt, im Spiel aber nicht. Also ist es eine Drucksituation oder die Umsetzung funktioniert nicht. Das heißt, entweder müssen sie im Kopf freier werden oder ihnen fehlt tatsächlich die Motivation, nochmal die Reserven anzutasten. Warum fehlt dann der Hunger? Wird der Druck zu viel, dass sie nicht mehr hungrig sein können oder ist es zu normal geworden? Brauchen sie vielleicht noch jemanden als Mitspieler, der es noch mehr will und vielleicht nochmal einen Unterschied machen kann?

Es steht jetzt fest, dass Tuchel zum Saisonende gehen wird. Hat das möglicherweise auch mentale Auswirkungen auf die Mannschaft? Falls ja, welche?

Es wird viel Professionalität brauchen und nicht nur Motivation, um die Saison zu einem guten Abschluss zu bringen. Ich traue es beiden Seiten zu, dass sie das schaffen. Die Fronten sind geklärt, jetzt kann man sich wieder sachlich an die Arbeit machen. Beide Seiten wollen erfolgreich sein. Vielleicht hat die Entscheidung auch ein wenig Dampf aus dem Kessel genommen. Wir werden sehen.

Wie ist es bei der Männer-Nationalmannschaft? Da kommen gestandene Bundesligaspieler zusammen. Muss man da mental nochmal anders arbeiten?

Das ist ein gutes Thema. Wir haben auf dem Blatt Papier einen richtig guten Kader bei der Nationalmannschaft. Es fügt sich aber nicht als Mannschaft zusammen, die ein gutes Spiel abliefert. Das ist das große Problem. Außerdem weißt du als Spieler schon von vornherein, dass du verbal von den Kritikern auf die Mütze bekommst. Es ist daher von der Motivation her extrem schwer, locker und positiv zu bleiben, weil man mit einer ängstlichen Haltung in das Spiel geht, dass man möglicherweise wieder abgewatscht wird, wenn es nicht läuft. Hinzu kommt: Die Spieler verdienen in ihrem Profi-Alltag bereits genug. Der Anreiz, der Stolz, im Nationaltrikot auf den Platz zu gehen, ist nicht mehr derselbe, wie er es noch vor Jahren war. Aber genau das brauchen wir gerade im Land: ein Sommermärchen.

Oft wirkt es, als sei es schwierig, die oft auch erfolgreichen Spieler hungrig zu halten. Vor allem in der EM-Vorbereitung, wo es ja sogar nur Freundschaftsspiele gibt…

Die Freundschaftsspiele hätten das Selbstbewusstsein der Mannschaft stärken können. Doch mit der aktuellen Ausbeute geht die Mannschaft eher mit gesenktem Kopf in das Turnier. Es wird mental sehr anspruchsvoll, das bis zum Sommer zu drehen. Aber Herausforderungen sind da, um gemeistert zu werden. Noch ist alles offen.

Wie bekommt man diese Motivation hin, ohne dass die ganze Situation am Ende nicht sogar hemmt?

Die Spieler brauchen Vertrauen in ihre Fähigkeiten und ihre Spielzüge. Diese gewinnen sie nur, indem sie Zeit miteinander haben, um sich als Mannschaft zu formen. Das ist die große Herausforderung. Die Spieler selbst sind gefragt, an sich zu arbeiten, Lösungen mit einzubringen, um dann in Zusammenarbeit mit dem Trainer eine starke Mannschaft an den Start zu bringen. Es ist wichtig, jetzt ihre eigene Motivation, das Gefühl, den Stolz, für Deutschland spielen zu dürfen, zu finden.

"Unser Gehirn bewertet leider negative Nachrichten und Erlebnisse höher."

Denise Schindler

Es gibt viele Beispiele aus dem Sport, wie Niederlagen einen Negativstrudel auslösen können, auch bei ganzen Mannschaften. Wie bei den Bayern zum Beispiel. Woran liegt das?

Unser Gehirn bewertet leider negative Nachrichten und Erlebnisse höher. Das heißt im Umkehrschluss: Um Euphorie auszulösen, braucht es ganz besonders positive Erlebnisse. Beispielsweise ein Tor in letzter Sekunde, das zum Sieg führt. Man sieht es auch bei Olympia. Wenn es zu Beginn der Spiele bereits Medaillen regnet, dann entsteht ein regelrechter Rausch. Die Athleten lassen sich anstecken, dass alles möglich ist, dass die Medaille ihnen gehören kann. Es entsteht ein guter Spirit im deutschen Haus, ein Glaube an den Erfolg. Umgekehrt können aber auch Selbstzweifel entstehen, wenn zu Beginn keine Medaillen kommen. Leider konnten wir genau das im vergangenen Jahr im Fußball beobachten. Der Misserfolg der Männer, so wirkte es, war quasi ansteckend für die eigentlich favorisierte Frauen-Nationalmannschaft. Misserfolge und Versagensängste, die auf einer Mannschaft lasten, müssen aktiv von Mentaltrainern begleitet werden.

Wie können Sportler lernen, besser mit Niederlagen umzugehen?

Man muss es ganz simpel sehen: Jedes Mal, wenn etwas nicht funktioniert, kann man auch etwas lernen. Lernen gibt uns die Chance, besser zu werden, wenn man offen dafür ist. Bei mir waren die krassesten Rückschläge extrem bitter und hart, aber dann wollte ich es eben noch mehr. Ich wollte zurückkommen und mir diese Medaille holen. Mit meinem Team habe ich Fehler analysiert und mit diesem Wissen nochmal ganz spezifisch an meinen Schwächen gearbeitet. Diese ehrliche Interpretation, dieses Nutzen von Niederlagen, von verlorenen Spielen, ist ganz, ganz entscheidend. Daraus zu lernen und zu erkennen, was man ändern muss, entscheidet, ob man morgen gewinnt.

Muss man Frauen und Männer eigentlich anders motivieren?

Ich würde mich nicht am Geschlecht orientieren. Wichtiger ist es, sich die einzelnen Persönlichkeiten anzuschauen und dem Profil entsprechend zu motivieren. Jeder Athlet hat eine andere Persönlichkeitsstruktur. Es gibt Athleten, die brauchen Vertrauen, um zu performen, wiederum andere performen mit Wut im Bauch besonders stark. Das herauszufinden, ist Aufgabe eines guten Trainers. Er weiß ganz genau, wie er seine Leute am besten anspricht und arbeitet mit diesen abgestimmten Werkzeugen ganz gezielt vor dem Wettkampf.

Über die Gesprächspartnerin:

  • Denise Schindler hat im Alter von zwei Jahren bei einem Unfall ihren rechten Unterschenkel verloren. Als Top-Athletin im Paracycling wurde die 38-Jährige unter anderem drei Mal Weltmeisterin und gewann bei den Paralympics zwei Mal Silber und ein Mal Bronze. Sie hält Vorträge zum Thema Resilienz, Durchhaltevermögen und mentale Stärke und hat auch ein Buch geschrieben mit dem Titel „Vom Glück, Pech zu haben“.
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