Laut einer aktuellen Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung ist die Mehrheit der Deutschen demokratieverdrossen. Doch eine Gefahr bedeutet dies nicht in den Augen des Politikwissenschaftlers Hans Vorländer. Im Interview erklärt der Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung in Dresden, wer von der Unzufriedenheit profitiert und warum es auch in Westdeutschland "Demokratieverdrossenheit" gibt.

Ein Interview

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Herr Vorländer, diese Diagnose stößt bitter auf: Die Mehrheit der Deutschen ist demokratieverdrossen. Woher kommt Ihrer Meinung nach dieser Unmut?

Hans Vorländer: Unmut ist vielleicht nicht das richtige Wort. Es geht darum, dass die Mehrheit der Deutschen zurzeit mit dem konkreten Funktionieren der Demokratie nicht zufrieden ist - dabei aber die Idee der Demokratie nach wie vor mehrheitlich für alternativlos hält. Einher geht dies mit einer allgemeinen Unzufriedenheit gegenüber den etablierten Parteien und Mandatsträgern, sicherlich auch mit der Großen Koalition. Die Menschen im Osten sind zudem skeptischer, zurückhaltender und in den letzten 30 Jahren von starken Veränderungen betroffen.

Wie drückt sich Ihrer Meinung nach diese Unzufriedenheit mit der Demokratie aus?

Das drückt sich in dem geringen Vertrauen gegenüber den politischen Institutionen aus. Auch ist in den letzten Jahrzehnten der Anteil der Nichtwähler gewachsen; in Sachsen betrug er bei der Landtagswahl im Jahr 2014 über 50 Prozent. Mittlerweile steigt die Wahlbeteiligung wieder. Die Menschen sind politisiert und sehen eine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen. Die AfD ist die Partei, die Protest und Unzufriedenheit aufsaugt, weiter schürt und damit Stimmen gewinnt.

Die "Mehrheit der Deutschen" sei unzufrieden mit dem konkreten Funktionieren der Demokratie, sagten Sie. Das heißt auch in Westdeutschland?

Es sind solche Gebiete, wo es große soziale, strukturelle und ökonomische Probleme gibt oder wo es seit 2015 starke Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten gegeben hat. Diese Herausforderungen tragen zu Protest, Verunsicherung und Unzufriedenheit bei und helfen der AfD bei der politischen Mobilisierung. Neben Ostdeutschland sind solche Gebiete zum Beispiel in Teilen Ost-Bayerns oder des Ruhrgebiets zu finden.

Inwieweit spielt die persönliche Situation eine Rolle?

Menschen in Ostdeutschland haben in den letzten Jahrzehnten starke Veränderungserfahrungen in ihrem sozialen Nahbereich gemacht. In den genannten Regionen ist die Abwanderung sehr hoch.

Viele sind in Rente gegangen. Es gibt Überalterung. Die großen persönlichen Veränderungen gehen einher mit der Verunsicherung und Verbitterung gegenüber Entwicklungen, die mit Globalisierung, Digitalisierung und Migration zu tun haben.

Die großen internationalen Trends werden unmittelbar vor der Haustür sicht- und spürbar. Diejenigen, die der Verunsicherung mit einfachen Antworten begegnen, haben leichtes Spiel: Sie geben sich als Kümmerer aus und als Schutzpatrone von Nation, Heimat und Identität.

Vor 30 Jahren fiel die Mauer. Trotzdem stehen Ostdeutsche der Demokratie skeptischer gegenüber als Westdeutsche. Warum überzeugt so viele im Osten Deutschlands die "Macht des Volkes" nicht?

Die Menschen im Osten sind 1989 aus ganz unterschiedlichen Motiven auf die Straße gegangen. Viele wollten Freiheit, eine gute soziale und ökonomische Entwicklung, so wie im Westen. Die Bürgerrechtler demonstrierten für Selbstbestimmung und Demokratie.

Viele hatten aber viel zu hohe Erwartungen an die Demokratie, zum Teil auch zu einfache Vorstellungen davon, wie kompliziert und schwerfällig Demokratien funktionieren.

"Das Volk" gibt es nicht. Es gibt nur eine Vielheit von Bürgern und Bürgerinnen mit sehr unterschiedlichen Interessen und Vorstellungen. Und das versuchen Demokratien zu respektieren und zum Ausgleich zu bringen.

Was spielt außerdem eine Rolle?

Bei Menschen, die in einer Diktatur groß geworden sind, spielt der Staat eine große Rolle. Er hat immer alle Fäden in der Hand gehalten.

Das aber ist in einer Demokratie anders. Deshalb ist es für viele Menschen schwierig, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, etwa zu protestieren oder sich selbst konstruktiv an Entscheidungen zu beteiligen.

Das Erwachen der Zivilgesellschaft in Ostdeutschland zeigt aber, dass etwas in Bewegung geraten ist. Protest, Polarisierung und die rauen Töne im öffentlichen Diskurs haben zu einer Politisierung geführt. Daraus kann neues Engagement für die Demokratie erwachsen.

Der Protest wird sich bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg über die Wahlergebnisse ausdrücken. Die AfD kann laut jüngster Umfragen die stärkste Kraft werden. Welches Rezept würden Sie gegen Politik-Unzufriedenheit verschreiben?

Es gibt keine einfachen Rezepte, dafür sind die gegenwärtigen Probleme, die mit dem gesellschaftlichen Wandel einhergehen, zu vielfältig: Wohnen, Bildung, Sicherheit, Migration, Digitalisierung, Umwelt, Verkehr, die Entwicklung ländlicher Räume. Aber Demokratien sind stark genug, um mit diesen Problemen umgehen zu können.

Hans Vorländer absolvierte ein Doppelstudium der Politischen Wissenschaft und der Rechtswissenschaften in Bonn und Genf. Nach seiner Promotion und unterschiedlichen Lehrstuhl-Vertretungen kam der gebürtige Wuppertaler 1993 als Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte nach Dresden. Gastprofessuren führten ihn zudem nach Paris, Dubrovnik, Mexico City, Bologna und Turin. Seit 2007 ist er Direktor des von ihm gegründeten Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Demokratie, Liberalismus und Populismus. Eine seiner jüngsten Arbeiten ist eine Analyse zu Pegida und der Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung dieser Protestbewegung. Seit 2017 ist er Direktor des von ihm initiierten Mercator Forum Migration und Demokratie – MIDEM.
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