Der Aufstand der Wagner-Söldner hätte in Russland einen Bürgerkrieg auslösen können. Doch obwohl der Kreml das Schlimmste gerade noch abwenden konnte, ist Putin jetzt verwundbar, wie schon lange nicht mehr. Söldnerchef Prigoschin kann sich aber trotz seines vermeintlichen Erfolgs nicht in Sicherheit wiegen.

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Betretene Gesichter und hektischer Aktionismus im Kreml lassen erahnen, wie angegriffen und nervös Präsident Wladimir Putin nach der gescheiterten Blitzrevolte der Wagner-Armee ist. Der 70-Jährige suchte am Dienstag ungewohnt intensiv die Nähe zu seinen Soldaten und Geheimdienstlern – mit einer Rede im Freien auf dem Kremlgelände vor den Uniformierten, mit einer Schweigeminute für die bei dem Aufstand getöteten Piloten und mit persönlichen Gesprächen.

Und Putin betonte, der Einsatz aller gegen die Truppen des Söldnerchefs Jewgeni Prigoschin habe Russland vor einem "Bürgerkrieg" bewahrt. Das mag übertrieben sein, aber die Wortwahl dürfte zeigen, wie ernst die Lage in der Atommacht ist.

Peskow redet Wagner-Aufstand klein

Putin, der seit mehr als 23 Jahren das Riesenreich führt, kämpft derzeit auch mit Blick auf die Präsidentenwahl im März 2024 um seinen Machterhalt. Für den Kreml sind die Einschätzungen internationaler Spitzenpolitiker und Experten zu einem möglichen Zusammenbruch des Systems Putin nicht wegzulächeln, weshalb auch Putins Sprecher Dmitri Peskow sich nun zur Offensive genötigt sieht.

Er hält das Machtgefüge in Russland durch den inzwischen beendeten bewaffneten Aufstand der Wagner-Söldner nicht für erschüttert. Es gebe keinen Grund für "ultra-emotionale Hysterie". Vielmehr habe die Rebellion die Gesellschaft weiter zusammengeschweißt – für Putin.

Es gehört zu Peskows Aufgaben, selbst größte Krisen um Putin kleinzureden. Aber für viele Russen bleibt es ein Rätsel, wie einfache Bürger, die sich ganz friedlich etwa mit einer Nachricht im Internet gegen den Krieg in der Ukraine aussprechen, jahrelang ins Straflager kommen – und jemand wie Prigoschin und seine Söldner, denen schwerste Kriegsverbrechen nachgesagt werden, frei herumlaufen. Der 62-Jährige ist wie erwartet in Belarus eingetroffen, wie dort Machthaber Alexander Lukaschenko mitteilte.

Lukaschenko: Putin und Prigoschin haben ihren Streit eskalieren lassen

Der als letzter Diktator Europas verschriene Politiker gewährt Prigoschin und seinen Truppen Zuflucht – und will auch von ihren Erfahrungen bei Kampfeinsätzen für die eigenen Streitkräfte profitieren, wie er in Minsk sagte. Lukaschenko ließ bei einer Rede vor Militärs wissen, dass er am Samstag das Ende des Aufstands mit Prigoschin ausgehandelt habe, um ein Blutvergießen zu verhindern.

Der Freund Putins inszenierte sich auch als Retter Prigoschins, den der russische Präsident habe "kaltmachen" wollen, wie er sich im Gangsterjargon ausdrückte. Und er machte deutlich, dass Putin und Prigoschin ihren Streit hätten aus dem Ruder laufen lassen. Keiner von beiden sei ein "Held" in dieser Geschichte. Kitten lässt sich das Verhältnis der langjährigen Freunde wohl nicht mehr.

Prigoschin soll nun in Belarus für seine Truppen Feldlager und Trainingsplätze einrichten und von dort aus operieren können. Von Belarus aus ist es auch nicht weit ins Nachbarland Ukraine, wo Putin seinen an Niederlagen reichen Krieg fortsetzt. Allerdings ist unklar, mit wie viel Soldaten, welchen Kommandostrukturen und welcher Ausrüstung Prigoschin nun noch operiert.

US-Experten sehen Prigoschin in der Falle

Putin hat den Wagner-Kommandeuren erneut in einer Rede am Montagabend angeboten, Verträge mit dem Verteidigungsministerium zu unterzeichnen. Doch das Misstrauen der Wagner-Söldner gegenüber dem Ministerium ist groß.

Prigoschin selbst kritisierte immer wieder Niederlagen im Ukraine-Krieg – wegen "Unfähigkeit" von Minister Sergej Schoigu bei der Kriegsführung. Übergeben sollen die Wagner-Truppen, die nach einer neuen Aussage Putins komplett vom russischen Staat finanziert wurden, aber nun auch ihre Ausrüstung an die regulären Streitkräfte Moskaus.

Experten des US-Instituts für Kriegsstudien ISW sehen Prigoschin trotz Putins Zusicherung von Straffreiheit nun in einer "Falle" in Belarus, weil der von Moskau abhängige Machthaber Lukaschenko ihn und seine Söldner auch jederzeit wieder an das Nachbarland ausliefern könnte. Zudem gilt in Belarus die Todesstrafe, weshalb sich die Wagner-Truppen, denen teils schwerste Verbrechen nachgesagt werden, kaum sicher fühlen dürften.

Und Putin selbst deutete an, was Prigoschin sonst noch blühen könnte: Er will nun das Firmenimperium Concord seines ehemaligen Freundes unter die Lupe nehmen lassen. Wer Putin kennt, der weiß, dass solche Drohungen nicht gut enden.

Milliarden verdiente Prigoschin, dessen Namen Putin öffentlich nicht mehr ausspricht, etwa mit den Essensversorgungen der russischen Streitkräfte. Der Kremlchef will das jetzt alles auf den Prüfstand stellen. Die vom Kreml gesteuerte Justiz ist schon in der Vergangenheit bei Gegnern Putins stets fündig geworden, wenn es darum ging, sie auszuschalten.

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Ehemaliger Redenschreiber Putins sieht Machtverfall

Ein Befreiungsschlag für Putin ist das alles nicht – der Wagner-Chef gilt als skrupellos und gefährlich, erprobt in Machtkämpfen in Afrika und im Nahen Osten etwa. Putins früherer Redenschreiber, der Politologe Abbas Galljamow, betont, dass die Revolte nicht nur Schwächen des russischen Sicherheitsapparats offenlegten.

Prigoschin wäre fast ungehindert bis nach Moskau durchmarschiert am Samstag, bevor er 200 Kilometer vor der Hauptstadt umkehrte, um Schlimmeres zu verhindern. Putin sei kein Garant für Stabilität mehr, sein Machtverfall beschleunige sich, sagte Galljamow.

"Die Schwächung Putins in den Augen der russischen Elite wird schneller, stärker und tiefer verlaufen", schrieb er in seinem Nachrichtenkanal bei Telegram. Für Putin sei es einmal mehr an der Zeit, einen Nachfolger zu suchen. Er meinte, dass Putin blass gewesen sei in seinen letzten Reden und vor allem im Umgang mit dem Aufstand. "Er versuchte das zu korrigieren. Aber es ist nur schlimmer geworden." (dpa/thp)

Zoodoku statt Sondersendung: ARD verteidigt Wagner-Berichterstattung

ARD-Chefredakteur Oliver Köhr hat die Entscheidung verteidigt, zum Wagner-Aufstand am Samstagvormittag keine Sondersendung zu zeigen. Stattdessen lief unter anderem eine Zoodoku.
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