• Kann Wladimir Putin noch einen schnellen Sieg in der Ukraine erzwingen?
  • Der erwartete Großangriff im engeren Sinne ist bisher ausgeblieben.
  • Die möglichen Gründe dafür sind vielfältig.

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Wenig mehr als zwei Wochen bleiben dem russischen Präsidenten Wladimir Putin noch bis zur Militärparade am 9. Mai, die ungeachtet aller Kämpfe in der Ukraine an den Sieg über Hitlerdeutschland erinnern soll. Will er an diesem Tag auch einen Sieg in der Ukraine verkünden, müssen die russischen Truppen nun deutlich vorankommen.

Die befürchtete Großoffensive mit schnellen Geländegewinnen gibt es bisher nicht. Dass die nach dem Abzug um Kiew umgruppierten und mit neuem Material ausgerüsteten Truppen schnell und hinter einer Feuerwalze aus Luftangriffen und Artillerie vorrücken könnten, war bisher die Befürchtung der Ukrainer und ihrer westlichen Partner.

Stattdessen rücken die russischen Truppen Schritt für Schritt vor. Aber: Allein im Gebiet Donezk sollen 42 Ortschaften von russischen Truppen erobert worden sein, sagte Olena Symonenko, eine Beraterin im Präsidentenbüro, am Donnerstag im ukrainischen Fernsehen.

Ein Großangriff geht mit mehr Feuerkraft einher

"Wenn wir von Großangriff sprechen, sprechen wir von Durchbruchsabschnitten von jeweils fünf Kilometer Breite. Dann sprechen wir außerdem vom Angriff der ersten und zweiten Welle, bestehend aus Panzern und motorisierter Infanterie, rund um die Uhr begleitet von Schlachtfliegern, unterstützt durch eine Feuerwalze der Artilleriegruppen der jeweiligen Armeen", erklärt der Militärexperte Michael Karl. Er befasst sich als Forscher der Bundeswehr-Denkfabrik GIDS mit Russland und Osteuropa .

Derzeit gebe es "punktuelle russische Angriffe auf ausgewählte Primärziele". Für die Angreifer seien die Wetter- und Bodenbedingungen schlecht. "Starker Regen, aufgeweichte Böden. Die Schlammperiode hält immer noch an. Die Folge: Die Panzer bleiben auf Straßen und befestigten Wegen, sie werden quasi kanalisiert", sagte er.

Ukrainer können sich aktuell gut auf die Situation einstellen

Die Ukrainer könnten sich darauf einstellen und mit kleinen Panzervernichtungstrupps reagieren. Dabei hätten sie die technische Schwachstelle an dem von Russen und Ukrainern genutzten Kampfpanzer T-72 ausgemacht: die Ladeautomatik.

"Ein Treffer in diesem Bereich führt zu einer Verbrennungsverpuffung oder lässt die Munition unterhalb der Panzerbesatzung detonieren", sagt Karl. Es gibt zahlreiche Aufnahmen zerstörter Panzer, bei denen der ganze Turm abgerissen ist.

Inzwischen ist durchaus die Frage, ob die aufmarschierten russischen Streitkräfte in der Lage sind, einen entscheidenden Schlag gegen die Ukraine schnell zu führen. "Das russische Mindestziel besteht darin, die ukrainischen Streitkräfte aus den Regionen Donezk und Luhansk vollständig herauszudrängen", sagt Karl. Zudem geht es Moskau darum, Mariupol sowie eine durchgängige Landverbindung zwischen dem Asowschen und dem Schwarzen Meer einzunehmen.

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Militärexperte: Russische Truppen suchen nach Stellen, wo sie die Verteidigung durchbrechen können

Entgegen allgemeiner Erwartungen ist der russische Angriff bisher aber nicht so massiv ausgefallen. "Sowohl von Norden als auch von Süden suchen die russischen Truppen Stellen, an denen sie unsere Verteidigung durchbrechen können", konstatierte der Militärexperte Oleh Schdanow im ukrainischen Fernsehen. Die Front sei jedoch vom Prinzip her stabil, und es habe keine starken Änderungen gegeben.

Nach den Worten des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj sind in den Gebieten Luhansk und Donezk etwa 44.000 ukrainische Soldaten. Ihnen stehen dort nach anderen Angaben Einheiten der russischen Armee und der Separatisten mit einer Truppenstärke zwischen 60.000 und 80.000 Mann gegenüber.

Erwartet wird, dass die russische Militärführung eine Einschließung der ukrainischen Einheiten im Donbass zum Ziel hat. Dafür stoßen russische Truppen aus Isjum im Gebiet Charkiw in Richtung Süden vor allem in Richtung Slowjansk im Donezker Gebiet vor.

Russischer Teilerfolg in der Kleinstadt Kreminna

Einen Teilerfolg erzielten die gemischten Truppen aus Separatisten unterstützt von russischer Artillerie und Luftwaffe bei der Kleinstadt Kreminna, die im Zuge der erneuerten Angriffe erobert wurde.

Dies eröffnete den russischen Truppen die Möglichkeit über Lyman auch vom Nordosten auf Slowjansk vorzurücken und gleichzeitig den Nachschub für die im Luhansker Gebiet verbliebenen Ukrainer abzuschneiden. Dabei hat inzwischen auch die ukrainische Seite bestätigt, dass mehr als 80 Prozent des Luhansker Gebiets unter russischer Kontrolle stehen.

Im Stahlwerk von Mariupol regt sich noch Widerstand

In der seit Anfang März eingeschlossenen Hafenstadt Mariupol im Süden des Donezker Gebiet am Asowschen Meer haben sich die verbliebenen ukrainischen Verteidiger auf das Territorium des Stahlwerks Azovstal zurückgezogen. Den bereits begonnenen Sturm hat Kremlchef Putin jedoch vorerst abgeblasen, um eigene Verluste zu vermeiden.

"Blockiert diese Industriezone so, dass nicht einmal eine Fliege rauskommt", ordnete Putin an. Zuvor hatte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Zeit für die komplette Einnahme noch auf etwa drei bis vier Tage geschätzt. Dabei sollen sich auf dem Werksgelände noch mehr als 2.000 Mann von ukrainischer Nationalgarde, Marineinfanterie und Grenztruppen befinden.

Entwarnung gibt es zumindest für den Moment nach dem Ende des berühmten russischen Kriegsschiffs "Moskwa" für den Süden der Ukraine, denn die russische Schwarzmeerflotte hat sich praktisch nach Sewastopol zurückgezogen - ihrer Basis auf der von Russland 2014 annektierten Halbinsel Krim. Ein Landungsunternehmen, etwa im Bereich Odessa, ist nach Einschätzung von Militärexperten in der Ukraine und bei westlichen Partnern damit derzeit ausgeschlossen. (Carsten Hoffmann und Andreas Stein, dpa/ank)

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