Türkische Imame sollen in Deutschland als Spitzel agiert und Anhänger der Gülen-Bewegung denunziert haben. Das ist in etwa so, als würde ein Pfarrer den Ehebruch eines Pfarreimitglieds wittern und das postwendend dem betrogenen Ehepartner stecken. Wie kann sowas sein?

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Im Auftrag der Bundesanwaltschaft hat die Polizei am Mittwochmorgen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz die Wohnungen von vier Imamen des Islamverbands Ditib durchsucht. Sie sollen Anhänger der verhassten Gülen-Bewegung beim türkischen Staat angeschwärzt haben.

"Wenn Seelsorger plötzlich nachrichtendienstlich zu Gange sind, bringt das einen enormen Vertrauensverlust mit sich", sagt Religionswissenschaftler Thomas Lemmenn.

Was ist das für eine Organisation, deren Mitglieder so etwas tun?

Die Abkürzung Ditib steht für Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion. Ihr unterstehen rund 900 der rund 2.500 Moscheegemeinden in Deutschland. Damit ist sie die größte islamische Organisation in der Bundesrepublik. Als eine Art Dachverband der Moscheegemeinden gibt sie die Linie für deren Aktivitäten vor, von der Koranlehre über das Gebet bis zu Hochzeiten.

Die Ditib vermittelt den Moscheegemeinden ihre Imame. Und allein diese Praktik hat Konfliktpotential. Denn die Organisation ist zwar formal gesehen unabhängig, faktisch aber eng mit der türkischen Religionsbehörde Diyanet verbunden.

Was ist die Diyanet und wo liegt das Problem?

Die Diyanet, das "Präsidium für Religiöse Angelegenheiten", zählt mit mehr als 100.000 Mitarbeitern (Stand 2015) zu den größten staatlichen Organisationen der Türkei. Man kann sich die Religionsbehörde wie eine Art staatliches Mega-Bistum vorstellen.

Zwar ist die Türkei ein laizistischer Staat. Die Verfassung gibt dem Staat aber die Möglichkeit, die Religionsausübung durch eine staatliche Behörde zu organisieren "und damit auch zu kontrollieren", wie Lemmen sagt.

Über die Diyanet verfügt die türkische Regierung also darüber, wie der Islam auszulegen und zu praktizieren ist. Die Ditib ist der lange Arm, der dafür sorgt, dass sich nicht nur die Muslime in der Türkei daran halten, sondern auch die türkischstämmigen Muslime in Deutschland.

Lange war das den deutschen Behörden ganz recht, nach dem Motto: Da weiß man, was man hat. Die Ditib galt gerade wegen ihrer Staatsnähe als relativ immun gegen extremistische Einflüsse. Sie wurde zum Partner, hat etwa Einfluss darauf, wer an öffentlichen Schulen in Deutschland Islam-Unterricht gibt.

Doch dann kam Recep Tayyip Erdogans Abkehr vom Laizismus. Der türkische Präsident ist dabei, den sunnitischen Islam Schritt für Schritt zur Staatsreligion zu machen. Aus Sicht von Islam-Experte Lemmen heißt das: "Deutschland muss sich fragen, ob die Ditib mit ihrer engen Rückbindung an den türkischen Staat noch zum Grundgesetz passt."

Denn was diese Nähe mit sich bringt, zeigt der Spitzel-Skandal. Schließlich war es die Religionsbehörde Diyanet, die Mitarbeiter der Konsulate per Brief aufgefordert hatte, über ihre Kanäle - sprich die Ditib - Informationen über Aktivitäten der Gülen-Bewegung in Deutschland zu liefern. Die Imame, bei denen jetzt die Polizei in der Tür stand, hatten also Order von ganz oben. Von dort, wo die Anhänger der Gülen-Bewegung als Staatsfeinde gelten.

Was ist die Gülen-Bewegung und warum bekämpft Erdogan sie?

Die Gülen-Bewegung entstand in den 80er-Jahren in der Türkei und geht auf den Prediger Fethullah Gülen zurück. Sie hat islamische Wurzeln, versteht sich aber in erster Linie als Bildungsbewegung. Als solche betreibt sie Schulen und Hochschulen in über 140 Ländern, außerdem Medien und Krankenhäuser.

"In Deutschland ist sie am ehesten mit einem religiösen Orden, wie etwa den Jesuiten, vergleichbar", erklärt Lemmen.

Lange waren Erdogan und Gülen beste Freunde. Sie verfolgten mit der islamischen Prägung der Türkei das gleiche Ziel, kämpften gemeinsam gegen den kemalistischen Staat und seinen Garanten, das Militär.

Als das Militär geschwächt und die Macht neu zu verteilen war, kam es 2013 zum Bruch. Gegenseite Schikanen gipfelten im Vorwurf Erdogans, die Gülen-Bewegung habe den Putsch vom 15. Juli 2016 angestachelt. Seither kämpft die AKP-Regierung mit allen Mitteln gegen die Bewegung. Auch in Deutschland - wie der Spitzel-Skandal zeigt.

Und was geht das alles Deutschland an?

Eine ganze Menge. Die Denunziation von Gülen-Anhängern in Deutschland "pervertiert das Grundgesetz", sagt Lemmen. Schließlich ist dort die Religionsfreiheit verankert.

Außerdem erschwere die Diyanet die Integration. Denn sie entsendet Imame aus der Türkei nach Deutschland, anstatt sie direkt in Deutschland auszubilden. Die Geistlichen kennen das Leben in Deutschland nicht. Oft sprechen sie kaum Deutsch. Und nach vier Jahren gehen sie zurück. "Wir brauchen Imame, die in Deutschland sozialisiert und ausgebildet sind", fordert Lemmen.

Mit den Razzien bei den mutmaßlichen Spitzeln hat Deutschland der Türkei Grenzen aufgezeigt. Gleichzeitig ist das Land ein wichtiger Nato- und Handelspartner - und Angela Merkel ist wegen des Flüchtlingsdeals auf Erdogan angewiesen. Ein Drahtseilakt.

Thomas Lemmen ist promovierter Religionswissenschaftler. Sein Forschungsschwerpunkt ist das Verhältnis zwischen Islam und Christentum. Er lehrt an der Philosophisch-Theologischen Hochschule SVD St. Augustin.
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