Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung nennt es das "AfD-Paradox": Die Partei stehe für Steuersenkungen für Reiche und Sozialstaatsabbau, während unter ihren Wählern viele Einkommensschwache und Arbeitslose sind. Die AfD bezeichnet Fratzschers Analyse dagegen als "ideologisches Machwerk".

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Könnte die Alternative für Deutschland (AfD) ihr politisches Programm tatsächlich umsetzen, würden ihre eigenen Wähler am meisten darunter leiden. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest eine "Kurzanalyse" des Ökonomen Marcel Fratzscher (PDF zum Herunterladen), die am Montag veröffentlicht wurde. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nennt diesen Widerspruch das "AfD-Paradox".

Das DIW gilt als eines der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland und hat seinen Sitz in Berlin. Die Grundfinanzierung des DIW wird jeweils zur Hälfte vom Bund und vom Land Berlin geleistet. An der Spitze des DIW mit seinen über 300 Mitarbeitern steht Fratzscher seit 2013. Dessen Analyse fällt in eine Zeit, in der die AfD in Umfragen bundesweit etwa 20 Prozent Zustimmung erhält.

Fratzscher: AfD steht für eine neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik

Für das zehn Seiten umfassende Dokument wertete Fratzscher zunächst den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung für die vergangene Bundestagswahl aus. Alle Parteien geben für diese onlinebasierte Wahlentscheidungshilfe Selbstauskunft zu zentralen Politikfeldern. Fratzschers Fazit: Die AfD verfolge eine "extrem neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik" und stehe für Steuersenkungen für Wohlhabende. Keine andere Partei wünsche "stärkere Einschnitte bei den Sozialleistungen" und lehne Klimaschutzmaßnahmen derart kategorisch ab. Zudem wolle nur die AfD die EU abschaffen beziehungsweise stark beschneiden.

All das stehe im Widerspruch zu den tatsächlichen Interessen der meisten AfD-Wähler, sagt Fratzscher. Studien zeigten, dass die Partei überdurchschnittlich von Menschen gewählt wird, deren Einkommen und Bildung "eher gering bis mittelhoch ist". Arbeiter und Arbeitslose wären häufig AfD-Unterstützer. Generell sei die Unzufriedenheit von AfD-Wählern hoch, während ihre soziale und politische Teilhabe gering sei.

Es sei genau diese Klientel, die von einer Umsetzung des AfD-Programms am wenigsten profitieren würde, so Fratzscher. "Würde sich die AfD-Politik durchsetzen, käme es zu einer Umverteilung von Einkommen und sozialen Leistungen von AfD-Wähler*innen hin zu den Wähler*innen anderer Parteien."

Die AfD sieht in Fratzschers Analyse dagegen ein "ideologisches Machwerk", wie die beiden Parteisprecher Tino Chrupalla und Alice Weidel auf Anfrage unserer Redaktion erklärten. Die AfD sei nicht, wie Fratzscher behauptet, für einen Sozialbau, sondern "gerade gegen soziale Einschnitte" und zum Beispiel für die Unterstützung von Familien. "Unsere Wähler wissen, warum sie uns wählen", sagen Chrupalla und Weidel.

Fratzscher: AfD-Wähler haben "verzerrte Wahrnehmung der Realität"

Doch haben AfD-Anhänger tatsächlich gute Gründe für ihre Wahlentscheidung? Zumindest Fratzscher sieht das nicht – er denkt, AfD-Wähler unterlägen einer "individuellen und kollektiven Fehleinschätzung". Sie seien überzeugt, "dass eine Rückabwicklung der Globalisierung, ein erstarkender Nationalismus sowie eine neoliberale Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ihnen persönlich bessere Arbeitsplätze, mehr Sicherheit und bessere Chancen verschaffen würden". Doch das Gegenteil sei der Fall. Dieses falsche Kalkül beruhe laut Fratzscher bestenfalls auf einer "verzerrten Wahrnehmung der Realität", schlimmstenfalls auf "irren Verschwörungstheorien".

Eine weitere Erklärung für das "AfD-Paradox" sei die "Hetze und Diskriminierung", die die Partei gegen Ausländer und Menschen mit Migrationsgeschichte betreibe. Dadurch gelinge es der AfD, ihren Unterstützern einzureden, "sie würden wirtschaftlich, sozial und politisch gewinnen, wenn soziale Leistungen oder Grundrechte für diese Gruppen eingeschränkt würden".

Fratzscher sieht es angesichts dieser Analyse als eine Aufgabe für Gesellschaft und Politik, "die Widersprüche der AfD-Positionen offenzulegen" und den "AfD-Populismus durch den öffentlichen Diskurs zu entlarven".

Zur Person: Marcel Fratzscher ist 1971 in Bonn geboren und studierte unter anderem in Oxford und Harvard Ökonomie. Nach Stationen bei der Weltbank und der Europäischen Zentralbank wurde er 2013 Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Zudem hält er eine Professur für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Fratzscher gilt als SPD-nah.

Verwendete Quellen:

  • DIW aktuell Nr. 88: "Das AfD-Paradox: Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler*innen" (PDF zum Herunterladen)
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