• In den vergangenen Jahren wurden in Deutschland Krankenhäuser geschlossen, selbst während der Corona-Pandemie.
  • Professor Reinhard Busse von der TU Berlin sieht darin kein Problem.
  • Im Gegenteil, es müssten noch viel mehr sein, sagt der Gesundheitsökonom im Interview mit unserer Redaktion. Aber warum?
Ein Interview

Im Internet kursiert eine Liste, dass im vergangenen Jahr 20 Krankenhäuser geschlossen wurden. Ist das in der Zeit von Corona nicht fatal?

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Prof. Reinhard Busse: Zunächst einmal: Wir haben in Deutschland extrem viele Krankenhäuser, und viele Krankenhäuser sind technisch und personell nicht adäquat ausgestattet. Zudem ist es immer schwierig zu sagen, ob tatsächlich geschlossen wurde, eine Fusion stattgefunden hat oder die Kapazitäten in ein anderes Haus verlegt wurden. Da relativiert sich dann einiges von den angeblichen Schließungen.

Was heißt, viele Krankenhäuser sind technisch nicht adäquat ausgerüstet?

Die Mehrheit der Krankenhäuser haben keinen Linksherz-Katheter, um Patienten mit Herzinfarkt diagnostizieren und therapieren zu können, die Mehrheit der Krankenhäuser hat keine Schlaganfall-Einheit, die Mehrheit der Krankenhäuser hat auch kein Krebszentrum. Wir haben also viele Krankenhäuser, die Patienten nicht qualitativ hochwertig versorgen können. Zudem werden vor allem kleinere Krankenhäuser ein Problem mit Fachkräften bekommen.

Warum gerade kleine? Diese Häuser haben doch auch Vorteile, mehr Verantwortung für die Ärzte, vielleicht weniger Stress?

Die Ärzte wollen ihre Weiterbildungen durchführen und ihren Facharzt abschließen, was ja voraussetzt, dass es entsprechende Patienten und Schulungsangebote gibt. Sprich, wer in einem kleinen Krankenhaus ist, wo beispielsweise nur wenige Herzinfarkte vorbeikommen, der wird auch nie Facharzt. Mediziner arbeiten auch generell lieber in Krankenhäusern, wo "echte" Patienten versorgt werden. Wir brauchen also eine Zentrierung, um für das Personal attraktiver zu sein.

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Sie sagen, Deutschland hat zu viele Krankenhäuser. Kann man das mit anderen Ländern vergleichen?

Es ist hier immer schwierig, was wir als Krankenhaus bezeichnen: die Institution oder die einzelnen Standorte. Als Vivantes in Berlin noch nicht Vivantes war, haben wir gesagt, das sind 8 Krankenhäuser. Jetzt ist es laut Statistik nur noch ein Krankenhaus. Wer das nicht weiß, denkt, dass sieben Krankenhäuser geschlossen worden. Deutlich vergleichbarer ist die Anzahl der Betten pro Einwohner. In Deutschland haben wir um die sechs Betten pro 1.000 Einwohner. Im EU-Schnitt kommen wir auf rund vier. Und wir haben auch 50 Prozent mehr stationäre Fälle als im Schnitt unserer Nachbarländer. Im Vergleich zu beispielsweise Dänemark sind es prozentual sogar noch mehr.

Warum haben wir mehr stationäre Behandlungen im Vergleich zu anderen Ländern, sind die Deutschen kränker?

Die Krankenhäuser haben ein Interesse daran, dass sie gefüllt sind. Das ist das Henne-und-Ei-Problem. Wenn man die Krankenhäuser fragen würde, würden sie sagen: Wir brauchen so viele Krankenhäuser, weil wir so viele Patienten haben. Ich sage aber, wir haben so viele Patienten, weil wir so viele Krankenhäuser haben. Und wir bezahlen die Krankenhäuser dafür, dass sie Patienten behandeln. Dann müssen wir uns auch nicht wundern, dass so viele Patienten behandelt werden.

Die Leute müssen ja erstmal in ein Krankenhaus kommen. Lassen sich in Deutschland mehr Menschen einweisen?

Die Hälfte der Fälle, die im Krankenhaus behandelt werden, kommen ohne Einweisung. Ein ganz relevanter Weg ist über die Notaufnahmen. Und in den Notaufnahmen entscheiden die Krankenhäuser selber, wen sie stationär dabehalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass in Deutschland ein Patient aus der Notaufnahme stationär aufgenommen wird, liegt bei fast 50 Prozent. Das ist im internationalen Vergleich ein unerhört hoher Wert. In anderen Ländern liegt diese Wahrscheinlichkeit eher bei 25 Prozent. Wir haben also doppelt so viele Patienten, die in der Notaufnahme waren und stationär aufgenommen wurden.

Was ist denn an der Krankenhausstruktur in Deutschland so besonders?

In anderen Ländern, nehmen wir Dänemark oder Italien, war die Struktur in den 1970er-Jahren zu unserer relativ ähnlich: eben viele kleinere Krankenhäuser. Die Medizin war auch eine ganz andere. Heutzutage müssen Patienten aber mit mehr Personal und mehr Technik behandelt werden. Und das heißt, ich muss die Krankenhauslandschaft konzentrieren. Das ist in anderen Ländern in den vergangenen Jahrzehnten passiert. Bei uns steht die Neustrukturierung der Krankenhauslandschaft aber noch aus.

Aber jetzt haben wir die Corona-Pandemie, den Krankenhäusern kommt eine entscheidende Rolle zu - ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, die Krankenhauslandschaft neu zu strukturieren, oder?

Die Krankenhäuser sind derzeit so leer, wie sie noch nie waren. Wenn wir in diesem Jahr in ein durchschnittliches Krankenhaus gehen und dort schauen, wie viele Betten belegt sind, dann würden wir feststellen, dass mehr als ein Drittel der Betten leer ist. Ein durchschnittliches Krankenhaus ist also zu weniger als zwei Drittel gefüllt.

Wie voll sind denn die Kliniken sonst?

Im Durchschnitt sollte ein Krankenhaus auf 80 Prozent belegte Betten kommen. Einen leichten Rückgang der Belegungszahlen gab es aber schon vor Corona. Doch seit März letzten Jahres ist die Patientenzahl drastisch eingebrochen. Und das ist natürlich ein gewisses Paradox: Wir befinden uns in der größten Gesundheitskrise des Landes, und die Krankenhäuser sind leerer als sie jemals waren.

Aber wenn sich die Corona-Lage weiter zuspitzt, brauchen wir mehr Betten.

Bei Corona sind nur solche Patienten im Krankenhaus, die schwer erkrankt sind. Werden die in kleineren Häusern wirklich angemessen behandelt? Dort gibt es nur eine Handvoll Intensivbetten. Da kann man sich ausrechnen, wie viel Erfahrung das Personal mit Intensivmedizin und Beatmung hat. Man muss weg von der Vorstellung, dass "Patienten ins Bett legen" die Behandlung ist. Das entspricht nicht mehr der modernen Medizin. Wir haben Patienten, bei denen wirklich etwas getan werden muss. Um das adäquat zu gewährleisten, brauche ich Erfahrung. Natürlich, bei Corona sind alle von Null gestartet, aber wer mehr Patienten bekommt, der sammelt auch schneller Erfahrung.

Wie hat sich die Krankenhauslandschaft durch Corona geändert? Sie haben gesagt, die Krankenhäuser sind so leer wie nie. Beschleunigt diese Situation die Schließung von Kliniken?

Wir haben in der Corona-Zeit den Krankenhäusern extrem viel Geld gegeben, fast 15 Milliarden Euro zusätzlich zur normalen Versorgung. Zugespitzt formuliert hatten wir die paradoxe Situation, dass die Krankenhäuser umso mehr Geld bekommen haben, je mehr leere Betten sie hatten. Das verhindert natürlich, dass die echten Probleme angegangen werden. Wenn ein Krankenhaus in Zeiten von Corona leer ist, sollte man sich fragen, wofür brauchen wir das überhaupt?

Aber hängen die leeren Betten nicht damit zusammen, dass viele Menschen Operationen freiwillig verschieben?

Wenn ich ein wichtiges Problem habe, dann gehe ich doch weiter ins Krankenhaus. Aber natürlich, die Bürger nehmen eine andere Nutzen-Schaden-Abwägung vor. Bei Problemen, bei denen schon in der Vergangenheit unklar war, warum die Patienten im Krankenhaus sind, wird sicherlich jetzt anders überlegt.

Kommt es nach der Pandemie zu einem Nachfrageschub?

Das denke ich nicht. Das sind häufig Patienten mit Hauptdiagnose Diabetes oder Bluthochdruck. Da fragt man sich, was machen die eigentlich im Krankenhaus, die können auch von niedergelassenen Ärzten versorgt werden. Bei solchen zweifelhaften Aufnahmegründen konnten wir besonders deutlich sehen, wie stark die Patientenzahlen zurückgegangen sind, weil die Leute während der Corona-Pandemie eine andere Risiko-Abwägung vornehmen. Und ich gehe davon aus, dass vieles von dieser veränderten Abwägung erhalten bleibt.

Aber dann löst sich das Problem der vielen Krankenhäuser doch von selbst?

Leider nein, bzw. würde das viel zu lange dauern und birgt bei mangelnder Planung auch das Risiko, dass das Ergebnis nicht so wie gewünscht ist. Wie gesagt, der Startpunkt vor Corona waren die 50 Prozent mehr stationären Fälle pro Einwohner als vergleichbare Länder. Und die Krankenhauslandschaft, wie wir sie derzeit haben, ist für die stationäre Versorgung der Bevölkerung im 21. Jahrhundert nicht mehr geeignet. Wir brauchen weniger, aber besser ausgestattete Krankenhäuser. Und das will geplant werden. Teil der Umstrukturierung ist auch das Personal. Wenn wir das erhalten, aber über weniger Betten in weniger Krankenhäuser verteilen, dann haben wir pro Bett mehr Pflegepersonal zur Verfügung. Wenn wir jetzt den Krankenhäusern wieder nur Geld geben, dann verschieben wir das Problem und die Lösung.

Was sollte Ihrer Meinung nach passieren?

Wir müssen uns zunächst einmal fragen, wie viele Krankenhäuser brauchen wir, die voll ausgestattet sind und wo sollen die sein. Es kann auch sein, dass anstelle drei kleiner Krankenhäuser irgendwo ein großes neues Haus gebaut werden muss und dass es nicht damit getan ist, zwei der drei Krankenhäuser irgendwo zuzumachen. Es sollte auch nicht so sein, dass die Krankenhäuser mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zuerst schließen müssen.

Es gibt ja die Qualitätsvorgaben, so und so viele Knie-Implantationen, so und so viele Bauchspeicheldrüsen-OPs muss ein Krankenhaus pro Jahr mindestens durchführen. Das dient doch auch dazu, dass sich die Krankenhäuser neu aufstellen müssen?

Diese Mindestmengen, die Sie erwähnen, sind nur eine Krücke. Das Problem ist, der Patient kennt diese Zahlen nicht. Er kann sie zwar erfragen, aber das ist kompliziert und das ist auch nicht die Aufgabe des Patienten. Außerdem sind diese Zahlen mit Ausnahmen verbunden, weil die Gesundheitsminister der Länder eben meinen, da müsste es mehr Krankenhäuser geben.

Wann und wo gibt es denn solche Ausnahmen?

Schauen Sie im Süden Brandenburgs, im Elbe-Elster-Kreis, da gibt es drei kleine Krankenhäuser. Keines von denen hat einen Linksherz-Katheter und die Gesundheitsministerin von Brandenburg sagt, dass jetzt eines dieser Krankenhäuser Operationen an der Bauchspeicheldrüse durchführen sollte. Das ist eine Idiotie, dass so ein kleines Krankenhaus für solche Operationen eine Sondergenehmigung bekommt. Das Krankenhaus kommt wahrscheinlich nie auf die geforderte Mindestmenge von zehn. Die Gesundheitsministerin will aber, dass die Leute nicht ins 50 Kilometer entfernte Cottbus fahren. Wir sehen leider immer wieder, dass die Politik sich fragt, geht es den Krankenhäusern finanziell gut, statt zu fragen, geht es den Patienten gesundheitlich gut. Für einen vernünftigen Plan muss man überlegen, wie viele Patienten mit bestimmten Krankheiten gibt es eigentlich in der Bevölkerung, was brauchen die und gegebenenfalls, wie schnell sind sie am Ort der Behandlung. Beim Herzinfarkt stellt sich das anders dar als bei Patienten mit Krebs, die können ein Stück weiter fahren, um in einem Zentrum mit großer Expertise behandelt zu werden. Beim Herzinfarkt und Schlaganfall gibt es gewisse Fahrtzeiten, die berücksichtigt werden müssen.

Momentan gibt es mehr als 1900 Krankenhäuser in Deutschland. Wie viele sollten es denn Ihrer Meinung nach sein?

Dazu schauen wir am besten, wie viele Patienten wir mit Herzinfarkt in Deutschland haben. Das sind 500 am Tag. Das heißt, ein Fall pro 160.000 Einwohner. Nehmen wir an, ein Krankenhaus bekommt einen Patienten mit Herzinfarkt pro Tag, dann bräuchten wir ein Krankenhaus pro 160.000 Einwohner, das wären 500 Krankenhäuser. Dazu kann man noch schauen, gibt es ländliche Gegenden, wo 160.000 Einwohner so stark verteilt leben, dass die Fahrtzeiten zu lang werden. In solchen Gegenden kann man überlegen, einen gewissen Trade-Off zu machen. Reichen da vielleicht 140.000 Einwohner für ein Krankenhaus. Das betrifft aber nur wenige Landkreise, wo es solche Sonderregelungen braucht.

Das Problem ist aber die Wahrnehmung. Wie erklärt man einem Menschen, der stolz auf das Krankenhaus in seiner Heimatstadt ist, dass es jetzt geschlossen werden muss. Dann heißt das gleich, die Politik lässt ländliche Regionen ausbluten.

Natürlich, das ist ein schwieriger Konflikt. Aber wir wissen aus anderen Ländern, dass wir irgendwann den Menschen sagen müssen: Leute, es ist besser, ein paar Kilometer weiterzufahren und dafür eine gute Behandlung zu bekommen, als nur wenige Minuten zu fahren und eine schlechte Behandlung zu riskieren. Das muss mit dem Bürger ernsthaft diskutiert werden. Und ich finde, das ist gerade nicht ein Zeichen dafür, dass man die Bürger im Stich lässt. Es ist wichtig, der Landbevölkerung zu sagen, ihr habt den gleichen Anspruch auf gute Versorgung wie Patienten aus der Stadt, lasst euch nicht mit kleinen, inadäquat ausgestatteten Krankenhäusern abspeisen, die schlechte Qualität liefern.

Über den Experten: Reinhard Busse ist Professor für Management im Gesundheitswesen an der Fakultät Wirtschaft und Management der Technischen Universität Berlin. Er ist gleichzeitig Co-Director des European Observatory on Health Systems and Policies und Fakultätsmitglied der Charité - Universitätsmedizin Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesundheitssystemforschung, insbesondere im europäischen Vergleich, Versorgungsforschung und Gesundheitsökonomie.
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