• Die Evakuierung von Deutschen und afghanischen Ortskräften aus Kabul kommt langsam voran.
  • Weiterhin harren jedoch noch über Tausend ehemalige Helfer der Bundeswehr und deutscher Behörden sowie ihre Familien in Afghanistans Hauptstadt und anderen Landesteilen aus.
  • Der Soldat und Sprecher des Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte, Sven Fiedler, drängt darauf, dass alle lokale Helfer gerettet werden.
Ein Interview

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Herr Fiedler, die Evakuierungsaktion der Bundeswehr ist angelaufen. Wie ist die Situation nun, am Dienstagabend, vor Ort?

Sven Fiedler: Die Stimmung schwankt zwischen Enttäuschung und Hoffnung. Am Montag haben Menschen den Flughafen in Kabul gestürmt, weil sie verzweifelt waren und unbedingt weg wollten. Nun scheint die Luftbrücke tatsächlich zu funktionieren. Es wenden sich wieder vermehrt Ortskräfte an uns und wollen, dass wir sie retten. Wir hören zugleich, dass das Leben in Kabul ganz langsam zur Normalität zurückkehrt, Geschäfte öffnen wieder, selbst Regierungsangestellte kehren auf die Arbeit zurück. Es ist gerade eine sehr dynamische Lage. Nur die Angst und Furcht vor den Taliban bleibt.

Wie macht sich das bemerkbar?

Wir hören immer wieder von den Leuten vor Ort, dass die Taliban von Haustür zu Haustür gehen und Wohnungen durchsuchen. Sie suchen nach Menschen, die dort nicht wohnen, die vor den Taliban geflüchtet sind, seien es Regierungsangehörige oder Ortskräfte. Diese Menschen müssen um ihr Leben fürchten, wenn die Taliban sie finden.

"Sie wollen unter keinen Umständen den Taliban in die Hände fallen"

Was berichten Ihnen Ihre Kontakte vor Ort? Versuchen die Ortskräfte voller Verzweiflung zum Flughafen in Kabul zu kommen?

Das ist sehr schwierig. Die Taliban kontrollieren die ganze Stadt, sie haben Checkpoints eingerichtet. Die Menschen sind in einer schwierigen Situation: Einerseits wollen sie natürlich unbedingt zum Flughafen, andererseits wollen sie unter keinen Umständen den Taliban in die Hände fallen.

Wissen Sie, ob es schon viele Ortskräften auf das Flughafengelände oder sogar in die ersten Rettungsmaschinen geschafft haben?

Der Übersetzer Zalmai A., der auch zwei unserer Safe Houses in Kabul betreute, hat es zum Glück geschafft. Er wurde mit der zweiten Maschine ausgeflogen. Wir hören zudem von einzelnen Ortskräften, dass sie selbst angerufen wurden oder jemanden kennen, der angerufen wurde, dass sie sich zu einer bestimmten Zeit am Flughafen einfinden sollen. Es passiert also gerade etwas vor Ort. Für uns ist es aber schwer das in der Breite zu erfassen.

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Bundeswehr-Generalinspekteur Eberhard Zorn erklärten am Dienstagvormittag, dass derzeit nur Ausländer Zugang zum Flughafen hätten.

Das ist auch unser Stand. Wir wissen, dass die Taliban den Zugang zum Flughafen stark kontrollieren. Aber wir haben ja gesehen, dass es vereinzelt Ortskräfte geschafft haben. Wir forschen gerade nach, wie sie das gemacht haben und wie wir andere entsprechend unterstützen können.

"Deutschland sollte so viele Ortskräfte wie möglich rausholen"

Im ganzen Land befinden sich weiterhin über Tausend Ortskräfte von Bundeswehr, Bundesministerien und Hilfsorganisationen, dazu kommen noch ihre Familien. Viele befinden sich gar nicht Kabul, sondern auch in anderen Provinzen. Wie könnten die gerettet werden?

Wir bekommen immer wieder Anfragen von Menschen aus Masar-i-Scharif oder Kunduz, die für die Bundeswehr gearbeitet haben. Wir wissen allerdings nicht, wie man ihnen derzeit eine Ausreise organisieren könnte.

Was sollte die Bundesregierung aus Ihrer Sicht tun?

Definitiv sollte die Luftbrücke aufrechterhalten werden. Und zwar nicht nur so lange, bis alle deutschen Bürger in Sicherheit sind. Wenn die Lage so übersichtlich und kontrollierbar bleibt, man vielleicht eine diplomatische Übereinkunft mit den Taliban erreichen kann, dann sollte Deutschland so viele Ortskräfte wie möglich rausholen und ihnen ein sicheres Leben in der Bundesrepublik ermöglichen. Vielleicht muss man am Ende auch mit viel Geld versuchen die Ortskräfte von den Taliban freizukaufen.

"Der Frust ist bei uns riesig"

Vor genau der Situation, wie wir sie seit Tagen erleben, haben nicht nur Ihr Verein, sondern auch viele Beobachter seit Wochen, teils sogar seit Monaten gewarnt. Wie groß ist bei Ihnen der Frust?

Der Frust ist bei uns riesig, wir sind wahnsinnig enttäuscht. Bei uns im Verein hat sich jeder um andere Familien gekümmert. Da waren teils minderjährige Kinder und Menschen, die antragsberechtigt auf ein Visum waren, aber es nicht mehr rausgeschafft haben. Das ist besonders frustrierend. Wir haben seit Langem darauf gedrängt, die Ortskräfte zu evakuieren, bevor die großen Städte besetzt sind. Dass man letztendlich sogar gewartet hat, bis die Hauptstadt Kabul eingenommen ist, hätten wir uns nie vorstellen können. Gerade auch, weil die Bundesregierung immer gesagt, sie tue etwas und helfe unbürokratisch…

… die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hat deshalb der Bundesregierung Wortbruch vorgeworfen. Teilen sie diese Einschätzung?

Ja, ich sehe das genauso. Wir haben den Menschen vor Ort, gerade den vielen Visa-Berechtigten, immer gesagt: "Die Bundesregierung holt euch da raus!" – und jetzt lässt man sie alleine. Viele haben uns erzählt, hätte die Politik nicht ständig versprochen, dass es eine Chance auf eine Ausreise nach Deutschland gibt, hätten sie sich nach Pakistan oder in den Iran absetzen können. Dann wären sie jetzt nicht in dieser Situation, in der sie sich auf den guten Willen der Taliban verlassen müssen.

Trotz allem klingt bei ihnen ein wenig Hoffnung durch. Warum?

Wir haben Stand jetzt eine kleine zweistellige Anzahl an Ortskräften und ihre Familien ausgeflogen. Das ist ein Anfang. Dass ich mich so optimistisch anhöre liegt daran, dass wir am Montag noch dachten, es schafft überhaupt kein einziger raus. Wir sind alles ehrenamtliche Helfer, bei uns muss das Prinzip Hoffnung vorherrschen. Würden wir die auch noch verlieren, dann glaubt ja niemand mehr an die Ortskräfte.

Zur Person: Sven Fiedler ist Sprecher des Vereins "Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte". Der 30-jährige Bundeswehrsoldat war 2018 selbst mehrere Monate in Afghanistan stationiert und hat dort mit einheimischen Ortskräften zusammengearbeitet.
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