Seit die "Alternative für Deutschland" Ende April 2016 im Grundsatzprogramm ihre flüchtlings- und migrantenfeindlichen Positionen niedergelegt hat, verändert sich die deutsche Einwanderungspolitik. Wie konnte die Rechtsaußen-Partei die öffentliche Diskussion so stark beeinflussen, dass schließlich sogar beinahe die Regierung darüber gestürzt wäre?

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Während die AfD stets behauptet, mit ihrer Anti-Asyl-Politik den Willen "des Volkes" zu repräsentierten, zeigen aktuelle Umfragen ein anderes Bild: Einer Forsa-Umfrage von der vergangenen Woche zufolge stützt eine große Zwei-Drittel-Mehrheit der Bevölkerung Angela Merkels Kurs in der Asylpolitik und befürwortet eine europäische Lösung.

Die Position von Horst Seehofer dagegen findet Forsa zufolge nicht einmal in seiner CSU eine Mehrheit, sondern nur unter den AfD-Anhängern.

Die Christsozialen, deren Ziel es war, vor den bayerischen Landtagswahlen im September Wähler der AfD ins eigene Lager zu holen und so eine absolute Mehrheit zu erreichen, werden abgestraft: Laut den Ergebnissen der aktuellen Sonntagsumfrage liegen sie bei nur noch 34 Prozent.

Eine Entwicklung, die Prof. Werner Weidenfeld nicht überraschend findet. "CSU-Leute sagen mir eindeutig: Das ist die Strategie der Parteifunktionäre und entspricht überhaupt nicht der Stimmungslage in der Bevölkerung", sagt der Politikwissenschaftler.

Im Gespräch mit diesem Portal konstatiert er: "Die Mehrheit meint, dass man sich zwar um das Thema schon kümmern muss. Aber wenn man die Leute fragt, ob die Asylpolitik derzeit ein drängendes Problem ist, sagen sie nein."

Die Asylpolitik "gehört" der AfD

Beim Blick in Zeitungen, Nachrichtenportale, Fernsehnachrichten und Talkshows erhält man allerdings einen völlig anderen Eindruck: Die Asylpolitik erscheint als das derzeitig wichtigste Problem der deutschen Politik. Woher kommt dieses Missverhältnis?

Prof. Joachim Trebbe ist Experte für derartige Phänomene. Der Kommunikationswissenschaftler an der FU Berlin mit Schwerpunkt Medienanalyse erkennt in der derzeitigen Konzentration auf das Einwanderungsthema das Prinzip des sogenannten "Issue Ownership":

Wer ein Thema als erster aufgreift und es mit griffigen Parolen ausstattet, der gilt auch dann weiterhin als sachkundig, wenn andere sich der Sache annehmen.

Kurz gesagt: Wer Begriffe besetzt, gilt als kompetent. Die AfD wird von vielen allein mit der Migrationsfrage in Verbindung gebracht, weil sie das "Issue Ownership" hat - das Eigentumsrecht am Begriff "Asylpolitik".

Daher wirken sich Stellungnahmen aus anderen Richtungen oft kontraproduktiv aus. Je mehr sich Horst Seehofer, die CSU und andere Parteien des Themas annehmen, desto stärker profitiert die AfD.

Denjenigen, die das Thema als "drängend" empfinden, erscheint sie weiterhin als die zuständige Partei - weil sie das Thema sozusagen "erfunden" hat.

Wer auf den von anderen gestarteten Zug aufspringt, so Trebbe, habe oft das Nachsehen: Zwar seien die Parteien gezwungen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, das die AfD auf die Tagesordnung gesetzt habe. Doch sei es sehr schwierig, den Zug dann in eine andere Richtung zu lenken.

Zur "Etablierungsphase" eines Themas gehört laut Trebbe auch dessen Eindringen in die Mediendiskussion. Dort habe es "eine starke Entwicklung der Repräsentanz der AfD-Positionen" gegeben, stellt er fest.

Während anfangs eine Art "Embargo" gegenüber AfD-Funktionären gewirkt habe, erlebe man nun, dass deren Politik zum Dauerthema geworden sei. Seither stecken die etablierten Parteien in der Zwickmühle.

Patentrezepte funktionieren nicht mehr

Drei naheliegende "Patentrezepte" funktionieren laut Trebbe im Zusammenhang mit der Asylpolitik nicht mehr. Erstens: Das Problem lasse sich nicht mehr totschweigen, weil es zu offenkundig sei: "Das Thema wird nicht mehr nur an den Stammtischen und in ostdeutschen Dörfern diskutiert."

Zweitens: Die AfD als rechtsradikal zu diffamieren nütze nicht, weil dieser Vorwurf ihre Anhänger nicht berühre. Drittens: Es sei zu spät, ihre Politik einfach zu übernehmen - weil sie nun einmal das "Issue Ownwership" habe.

Politikberater Weidenfeld sieht genau hier das Versagen der etablierten Parteien: "Man läuft der AfD hinterher, anstatt den Leuten eigene Angebote zu machen." Dass die Politik immer öfter und gerade in der Einwanderungspolitik Positionen der Rechten übernehme, sei eine Folge von "Ideenmangel und Strategielosigkeit".

Viele Menschen verstünden längst nicht mehr die gravierenden Probleme der heutigen Zeit. Ihnen komme das simple Angebot der AfD entgegen: "Im Zeitalter der Konfusion kommt die AfD und sagt: Die Fremden sind schuld."

Die Partei liefere "ein einfaches Deutungsangebot, eine "Hilfskonstruktion, um die Welt zu erklären, die Probleme der Globalisierung, der Flüchtlingsströme, des gesellschaftlichen Wandels."

Die Parteien brauchen Fantasie und Strategie

Dem könne nur etwas entgegensetzen, wer eine klare Strategie verfolge und diese auch entsprechend kommuniziere. "Die Parteien brauchen ein eigenes Bild: Wer sind wir? Wie wollen wir sein? Wie kann die Gesellschaft der Zukunft aussehen?"

Wer dieses Bild und die passenden Begriffe dazu liefere, der könne auch wieder jene Teile der Gesellschaft an sich binden, die derzeit nach rechts abdriften.

Doch von heute auf morgen sei eine solche Strategie nicht durchzusetzen: "Es reicht nicht, eine Überschrift für einen Tag zu finden. Man muss das vorbereiten und nacharbeiten".

Dazu fehle der Politik derzeit die Kraft und die Zeit. Es sei, so Weidenfeld, letztendlich die "Fantasielosigkeit der Politik", die zu einer schleichenden Anpassung an die AfD führe.

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