• Während der Westen panisch aus Afghanistan flieht, arrangiert sich Russland auffallend schnell mit den Islamisten, den Feinden von einst.
  • Der Kreml fahre "doppelgleisig", sagt Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck: einerseits Verhandlungen, andererseits militärische Drohkulisse.
  • Die Annäherung an die Taliban sichert Russland auch sein Einflussgebiet in Zentralasien, wo auch die USA militärisch Fuß fassen wollten.
Eine Analyse

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Unterschiedlicher hätten die Reaktionen auf den Triumph der Taliban in Afghanistan nicht sein können: Während die USA und die Verbündeten Hals über Kopf fliehen und die geschockte Öffentlichkeit mit Grauen auf die Bilder vom Kabuler Flughafen blickt, verteilt das offizielle Russland Lob für die neuen Machthaber.

Er sei beeindruckt vom Vorgehen der Taliban, sagt Russlands Botschafter Dmitri Zhirnov im Radiosender "Ekho Moskvy" - die Situation in der Hauptstadt sei besser als unter dem geflüchteten Ex-Präsidenten Ashraf Ghani.

Die internationale Staatengemeinschaft evakuiert hektisch Botschaften und Konsulate, Russlands Vertretung hingegen genießt den ausdrücklichen Schutz der Taliban: Ein irritierendes Arrangement – schließlich gelten die Taliban in Russland seit 2003 als terroristische Organisation.

Ihre Wurzeln haben die Gotteskrieger in den Wirren des blutigen Aufstandes der Mudschaheddin gegen die Sowjetunion, der 1989 im traumatischen Abzug der zerbröselnden Supermacht endete. Und lange Zeit kämpfte Russland in Afghanistan mehr oder weniger an der Seite der USA gegen die Taliban. Aber plötzlich findet sich der Kreml nicht nur mit der Machtübernahme der Islamisten ab, sondern kooperiert auch noch mit ihnen – und steht offenbar bereit, gemeinsam mit China das Vakuum zu füllen, das die USA in Afghanistan hinterlassen. Dafür nähert sich Russland den Feinden von einst im Eiltempo an und macht offenbar weitreichende Zugeständnisse.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser

Russland fahre "doppelgleisig", erklärt der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott aus Innsbruck im Gespräch mit unserer Redaktion. Einerseits setze der Kreml auf Verhandlungen, andererseits auf militärische Drohkulissen. Erst kürzlich kündigte Moskau an, an der Grenze zwischen Afghanistan und Tadschikistan ein großes Manöver abzuhalten.

In den jüngsten Gesprächen, die eine Delegation der Taliban im Juli in Moskau führte, skizzierte Außenminister Sergej Lawrow die rote Linie Russlands: Solange die Kampfhandlungen auf Afghanistan beschränkt bleiben, greift Russland nicht ein.

Die Abmachung basiert auf den schlechten Erfahrungen, die Russland mit den Taliban ab Mitte der 90er gemacht hat, als dschihadistische Kämpfer ins postsowjetische Zentralasien einsickerten. Ein Szenario, das dem Kreml Sorgen bereitet, und das um jeden Preis verhindert werden soll – im Gegenzug, sagt Mangott, könne der Kreml mittelfristig die Taliban als legitime Regierung anerkennen.

Erst an der Seite der USA, nun auf eigene Rechnung

Die Gespräche mit den Islamisten wurden stets als inoffizielle Kontakte bezeichnet, erklärt Mangott – nur so ließen sich Gespräche mit einer Terrorgruppe rechtfertigen. Diese Einstufung aus dem Jahr 2003 sei allerdings eine "außenpolitische Geste" gewesen an den Westen: "Damals suchte Putin noch die Entspannung."

Die Operation "Enduring Freedom" lag auch im Interesse des Kremls, die Allianz durfte sogar einige Jahre lang eine Landroute aus Russland und den Flughafen Uljanowsk nutzen, bis sich nach der Krim-Krise die Beziehungen zu den USA verschlechterten.

Jetzt, wo die Amerikaner abziehen, scheint Russland in den Taliban die Garanten der Stabilität im Land zu erkennen. Die Entscheidung, die Botschaft in Kabul offenzuhalten, deutet für Mangott bereits auf ein "relativ stabiles, vertrauensbasiertes Verhältnis" hin.

Nicht zuletzt war Moskau offensichtlich auch besser vorbereitet auf den Siegeszug der Taliban, auch dank ihrer Expertise. "Ich glaube, die russischen Nachrichten- und Geheimdienste arbeiten in der Region besser und effizienter als die der USA", sagt Mangott.

Die Taliban als geringeres Übel

Warum sich Russland mit den Taliban arrangieren kann, lässt sich vereinfacht so begründen: Sie sind nicht der IS. Die Taliban hätten eine nationale Agenda, erklärt Mangott. Die Dschihadisten des Islamischen Staats wollten die muslimische Revolte auch immer über die Grenze nach Zentralasien führen, das Russland als sein Einflussgebiet betrachtet.

Gebannt ist die Gefahr für Russland allerdings nicht, nach wie vor kontrollieren die Taliban nicht das gesamte afghanische Territorium. Schon jetzt hat sich in der Region Panjshir offenbar eine "Nordallianz" um den ehemaligen Vizepräsidenten Amrullah Saleh gebildet, auch islamistische Splittergruppen sind weiter aktiv.

Russland werde die Situation aus seinem Hinterhof in Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan genau beobachten, vermutet Mangott. Doch selbst, wenn die Taliban nicht halten, was sie versprechen: ein militärisches Eingreifen auf afghanischem Boden schließt er aus.

Einerseits, weil das erfahrungsgemäß nicht hilft gegen die Taliban, wie jetzt auch die USA erkennen mussten. Andererseits sei das afghanische Trauma noch präsent in der russischen Gesellschaft. Mehr als 15.000 sowjetische Soldaten wurden im Afghanistan-Krieg bis 1989 getötet, mehr als 100.000 verwundet. "Gekoppelt wird das mit den Erfahrungen der Intervention in der Ukraine und in Syrien: Die negative Stimmung der Bevölkerung gegenüber diesen Abenteuern wächst doch deutlich", sagt Mangott.

"Genugtuung" für Russland

Russland begnügt sich also offensichtlich für den Moment damit, seinen Einfluss in der Region auszudehnen, vor allem gegen die USA, die in Zentralasien militärisch Fuß fassen wollten. CIA und Pentagon wollten von dort aus sogenannte Over-the-Horizon-Aktionen starten, um Terroristen zu beobachten und auszuschalten. Das habe Russland mit Druck auf Tadschikistan, Usbekistan und Kirgisistan verhindert, erklärt Mangott.

Wie die neue geopolitische Lage Afghanistans aussehen könnte, ließ sich am Montag erahnen, als US-Außenminister Anthony Blinken zum Hörer griff, um seine Amtskollegen aus China und Russland zu konsultieren. Peking hat in Afghanistan ähnliche Sicherheitsinteressen wie Moskau, und zusätzlich noch massive wirtschaftliche Interessen im Rahmen der "Neuen Seidenstraße". Auch China hat sich bereits lange vor der Machtübernahme mit den Taliban getroffen.

Ganz aus dem Spiel seien die USA aber nicht, meint Russland-Experte Gerhard Mangott. "Sie entscheiden wesentlich, wie die Staatengemeinschaft mit den Taliban umgeht" - also ob Hilfsgelder und Investitionen fließen dürfen.

Vor Ort aber werden Russland und China die wichtigeren Player, nun, da die USA Hals über Kopf abgezogen sind. Eine krachende Niederlage, die russische Kommentatoren und Politiker bissig kommentieren. "There was inevitable schadenfreude", unvermeidliche Schadenfreude also, registrierte die "Washington Post". So weit würde er nicht gehen, sagt Gerhard Mangott: "Aber Genugtuung trifft es."

Über den Experten: Prof. Dr. Gerhard Mangott ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf den Länder der ehemaligen Sowjetunion. Verfasser von zahlreichen Studien und Aufsätzen zur russischen Außenpolitik.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Gerhard Mangott
  • Twitteraccount von Amrullah Saleh
  • Der Standard (18. August 2021): Chinas kalkulierter Kuschelkurs
  • National Public Radio: "The Russian Embassy in Kabul is now under protection of the Taliban"
  • Reuters: "Russia says Kabil seems sager under Taliban than it was under Ghani"
  • Süddeutsche Zeitung (18.08.2021): "Auf ein Wort"
  • The Wall Street Journal: "Taliban Conquest of Afghanistan Scrambles the Diplomatic Map"
  • Washington Post: "Russia sees potential cooperation with Taliban, but also prepares for the worst"
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