Mitte Juni war es in Stuttgart zu heftigen Ausschreitungen gekommen. 39 Verdächtige ermittelte die Polizei seither. Die Beamten wollen auch die Frage nach dem Gewaltpotenzial klären. Doch mit ihrem Vorgehen lösen sie heftige Kritik aus.

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Bei ihren Ermittlungen zur Stuttgarter Krawallnacht nimmt die Polizei auch das Umfeld der Verdächtigen und deren familiären Hintergrund unter die Lupe - und löst damit bundesweit heftige Kritik aus.

Die Polizei bestätigte am Sonntag, dass sie bei ihren Ermittlungen in Einzelfällen bei Standesämtern nachforscht, welche Nationalität die Eltern von Tatverdächtigen haben. Es gehe darum, weitere Täter zu identifizieren sowie die Lebens- und Familienverhältnisse der bereits bekannten Verdächtigen umfassend festzustellen, erklärte das Polizeipräsidium. Dies als "Stammbaumforschung" zu bezeichnen, sei aber nicht korrekt.

Strobl: "Polizei arbeitet professionell und korrekt"

Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) verteidigte das Vorgehen als Selbstverständlichkeit in einem Strafverfahren. "Der Begriff 'Stammbaumforschung' ist da fehl am Platze", sagte Strobl. "Unsere Polizei arbeitet professionell und korrekt."

Die Ausschreitungen in Stuttgart hätten ein bislang unbekanntes Gewalt- und Eskalationspotenzial der Beteiligten erkennen lassen. Daran richteten sich auch die Maßnahmen zur justiziellen und polizeilichen Aufarbeitung aus. "Und deswegen werden alle Umstände in die Bewertung einbezogen, die für die Sanktionierung, aber auch die Prävention, von Bedeutung sind."

Stuttgarter Krawallnacht: 39 Tatverdächtige ermittelt

In Stuttgart war es in der Nacht zum 21. Juni zu schweren Auseinandersetzungen gekommen. Randalierer hatten Schaufenster zerstört und Geschäfte geplündert. Nach Angaben der Polizei waren 400 bis 500 Menschen an den Randalen beteiligt oder hatten zugeschaut. 32 Polizisten wurden verletzt. Inzwischen seien 39 Verdächtige ermittelt. 14 säßen in Untersuchungshaft, 6 weitere Haftbefehle seien außer Vollzug gesetzt worden, hieß es.

In einem Bericht von "Stuttgarter Zeitung" und "Stuttgarter Nachrichten" hatte es geheißen, die Polizei wolle "Stammbaumforschung" betreiben. Polizeipräsident Franz Lutz habe am Donnerstag im Gemeinderat angekündigt, dass die Polizei auch bei Verdächtigen mit deutschem Pass mithilfe der Landratsämter Stammbaumrecherche betreiben werde.

"Die Polizei hat unsere volle Rückendeckung für ihre Aufklärungsarbeit, aber nicht für fragwürdige Ermittlungsmethoden", sagte dazu der innenpolitische Sprecher der Grünen-Landtagsfraktion, Uli Sckerl. FDP-Bundestagsfraktionsvize Stephan Thomae nannte das Vorgehen ein "Unding". "Wir kennen keine Sippenhaft", sagte er. "Das verstört mich nachhaltig", twitterte auch die SPD-Vorsitzende Saskia Esken daraufhin.

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz schrieb bei Twitter: "Polizeiliche Stammbaumforschung ist die unsägliche Konsequenz aus der rechtsextremen Debattenverschiebung darüber, es sei relevant, ob Menschen, die Straftaten begehen, deutsch sind oder nicht / Migrationswurzeln haben oder nicht."

Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: "Stammbaumforschung ist Rassismus pur und ein Skandal, der umgehend gestoppt werden muss." Seitens der CDU hieß es, man wolle wissen, ob der Migrationshintergrund vieler Täter als Indiz zur Erklärung der Gewalttaten tauge.

Habeck: Stammbaumrecherche in keinster Weise akzeptabel

Grünen-Parteichef Robert Habeck sagte dem "Tagesspiegel", es sei wichtig, die Hintergründe der Gewalttaten zu ermitteln und aufzuklären. "Wir müssen wissen, wie es dazu kam und wie sich so etwas zukünftig verhindern lässt", betonte er. "Wenn es jedoch stimmt, dass die Stuttgarter Polizei dafür 'Stammbaumrecherche' betreiben will, wäre das in keinster Weise akzeptabel", so Habeck weiter.

Ein Sprecher der Stadt schrieb am Sonntag bei Twitter, der Begriff gehöre nicht zum Wortschatz der Stadt beziehungsweise der Polizei. Ausweislich des Tonbandmitschnitts der Gemeinderatssitzung habe der Polizeipräsident "zu keinem Zeitpunkt" von "Stammbaumforschung" gesprochen, erklärte das Polizeipräsidium. Lutz habe in der Gemeinderatssitzung erläutert, dass es für eine strafrechtliche Aufarbeitung nötig sei, alle persönlichen Umstände der Verdächtigen einzubeziehen.

Polizei will Staatsangehörigkeit der Eltern recherchieren

Die Identifizierten seien überwiegend Jugendliche und Heranwachsende, bei denen die Prävention im Vordergrund stehe. "Um eine erfolgreiche Präventionsarbeit auch längerfristig gewährleisten zu können, bedarf es maßgeschneiderter Konzepte, welche die persönlichen Lebensumstände, wie auch einen potenziellen Migrationshintergrund, miteinbeziehen", betonte das Polizeipräsidium.

Nach Polizei-Definition hat ein deutscher Staatsbürger dann einen Migrationshintergrund, wenn ein Elternteil keinen deutschen Pass besitzt. Von den bislang 39 ermittelten Tatverdächtigen hätten 24 die deutsche Staatsbürgerschaft, bei 11 von diesen 24 würde ein Migrationshintergrund bestätigt, berichtet die "Frankfurter Allgemeine".

Wiederum bei weiteren 11 Verdächtigen sei dies noch nicht gesichert, weshalb die Polizei die Staatsangehörigkeit der Eltern recherchiert, wie Lutz begründete. Strafrechtlich sind diese Informationen aber nicht von Relevanz. (msc)

Verwendete Quellen:

  • dpa
  • presseportal.de: POL-S: Angriffe auf Polizeibeamte und Ladengeschäfte in der Innenstadt - Hintergründe zu den Ermittlungen der Tatverdächtigen - Tonmitschnitt der Gemeinderatssitzung
  • faz.net: Das Wort "Stammbaumrecherchen" fiel gar nicht
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