Manche Menschen wachen morgens auf und sprechen auf einmal mit einem fremden Akzent. Weltweit sind rund 100 Fälle des sogenannten Fremder-Akzent-Syndroms bekannt. Spanier klingen dann plötzlich wie Ungarn, Deutsche wie Schweizer oder Amerikaner wie Briten. Die Erkrankung ist kaum erforscht. Schäden am Hirn scheinen aber eine Rolle zu spielen.

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Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf - und auf einmal sind Sie zur Niederländerin geworden. Sie sprechen zwar weiterhin Deutsch, aber mit einem deutlich wahrnehmbaren niederländischen Akzent.

Sie haben keinerlei Erklärung dafür, können den Akzent aber auch nicht abstellen. Ihr Umfeld reagiert befremdet und geht davon aus, dass Sie andere Menschen veralbern wollen. Unsinn? Nicht unbedingt.

Etwas Vergleichbares haben bislang geschätzt rund 100 Menschen erlebt. Eine von ihnen ist die US-Amerikanerin Michelle Myers. Als sie eines Morgens aufgestanden ist, sprach sie plötzlich britisches Englisch. Dabei war die 45-Jährige, die im Bundesstaat Arizona lebt, nie in Großbritannien gewesen.

Tatsächlich hatte sie die USA noch nie verlassen. Am Abend zuvor hatte sie noch unter heftigen Kopfschmerzen gelitten. Die waren nun verschwunden - dafür wurde sie den britischen Akzent nicht mehr los.

Weltweit wurden rund 100 Fälle dokumentiert

Michelle Myers leidet an einer seltenen Erkrankung, die auch als Fremder-Akzent-Syndrom (FAS) bezeichnet wird. Weltweit sind laut der University of Texas at Dallas ganz verschiedene Fälle dokumentiert worden.

Darunter sind Japaner, die plötzlich mit koreanischem Akzent sprachen. Es gibt Briten, die auf einmal klangen, als seien sie Franzosen oder auch Spanier, die plötzlich sprachen, als kämen sie aus Ungarn.

Bei FAS bleibt die Muttersprache in der Regel erhalten - allerdings sprechen die Betroffenen sie nicht mehr so wie ihre Landsleute, sondern fallen durch einen fremden Akzent auf.

Die Gründe dafür sind bislang unklar. Laut der Deutschen Gesellschaft für Neurologie ist die Erkrankung sehr selten und bislang kaum erforscht worden.

Häufig ist das Phänomen nach Hirnschäden aufgetreten

Ungewöhnlich ist der oben erwähnte Fall von Michelle Myers. In den vergangenen sieben Jahren hatte sie schon mit zwei anderen Akzenten gesprochen. So war sie eines Morgens aufgewacht und hatte plötzlich Englisch mit irischem Einschlag gesprochen.

Ein anderes Mal hatte sie auf einmal einen australischen Akzent entwickelt. In beiden Fällen bildeten sich diese Phänomene innerhalb von ein bis zwei Wochen wieder zurück. Mit dem britischen Akzent spricht sie nun allerdings bereits seit mehr als zwei Jahren.

Häufig ist FAS nach Hirnschädigungen beobachtet worden. Dazu zählen zum Beispiel Schlaganfälle, Tumore, Schädel-Hirn-Traumen und Hirnblutungen. Es wird angenommen, dass diese sich auf die Sprache auswirken.

Auch Michelle Myers berichtet, dass sie jedes Mal unter heftigen Kopfschmerzen gelitten habe, bevor sie mit einem Akzent aufgewacht sei.

Es gibt einige typische Veränderungen in der Sprache

Die University of Texas at Dallas nennt typische Veränderungen bei FAS. Dazu zählen zum Beispiel eine auffällige Sprachmelodie mit ungewöhnlichen Betonungen, vor allem bei mehrsilbigen Wörtern. Viele Betroffene verzerren oder verschlucken auch Konsonanten oder sprechen sie anders aus.

Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass der vermeintlich fremde Akzent bei FAS gar nicht einer bestimmten Sprache zuzuordnen ist. Vielmehr könnte er durch die Art und Weise entstanden sein, wie die Betroffenen nach einer Hirnverletzung ihre Zunge, die Lippen und auch die Zungenspitze bewegen.

Auf diese Weise klingen Konsonanten und Vokale plötzlich anders als sonst, auch die Sprachmelodie und die Betonung von Wörtern können sich verändern.

Der Akzent ist für viele Betroffene belastend

Diese Veränderungen könnten dann von ihrem Umfeld, oft auch von ihnen selbst, einer anderen Sprache zugeordnet werden. Dafür spricht auch, dass der Akzent in der Regel zwar als fremd wahrgenommen wird, aber manchmal nicht eindeutig erscheint.

So sprach die US-Amerikanerin Karen Butler 2009 nach einer Zahn-OP anders als sonst. Dieser Akzent wurde von ihrem Umfeld ganz verschieden aufgefasst - teils als britisch, als schwedisch oder auch als "irgendwie osteuropäisch".

Der vermeintliche Akzent ist für viele der Betroffenen sehr belastend. Besonders soll darunter im Jahr 1941 die Norwegerin Astrid L. gelitten haben: Sie wurde 1941 bei einem deutschen Luftangriff durch einen Splitter am Kopf verletzt. Danach sprach sie mit einem deutschen Akzent.

Da das Land sich im Krieg befand, hatte das für die Norwegerin unangenehme Folgen: Sie wurde für eine deutsche Spionin gehalten und von ihrem Umfeld gemieden. Auch in Geschäften sei sie häufig nicht mehr bedient worden, berichtete sie.

Bekannte Fälle von FAS

Der französische Neurologe Pierre Marie berichtete zum ersten Mal über einen Fall von FAS. Das war im Jahr 1907. Es handelte sich dabei um eine Pariserin, die einen Schlaganfall erlitten hatte. In der Folge sprach sie mit einem Akzent, der elsässisch klang.

In Deutschland gab es im Jahr 2005 einen Fall: Sabine Kinderschuh aus Thüringen hatte einen Schlaganfall. Danach sprach sie plötzlich Deutsch mit einem schweizerischen Dialekt. Sie war allerdings nie in der Schweiz gewesen.

Die Britin Kay Russell sprach 2010 plötzlich mit einem französischen Akzent. Zuvor hatte sie eine schwere Migräne-Attacke erlitten.

Außergewöhnlich ist der Fall eines 50-jährigen Italieners: Nach einer Durchblutungsstörung im Hirnstamm sprach er plötzlich kein Italienisch mehr, sondern nur noch Französisch. Er hatte die Sprache in der Schule gelernt und sie seit rund 30 Jahren nicht mehr gesprochen.

Der Fall sorgte für Aufsehen. Anders als "typische" FAS-Patienten spricht der 50-Jährige jedoch kein ungewöhnlich akzentuiertes Italienisch, sondern ausschließlich Französisch.

Und das, obwohl er die Sprache lediglich in der Schule gelernt und anschließend fast 30 Jahre nicht mehr angewendet hatte. Außerdem soll er sich plötzlich stark für die französische Kultur interessiert haben.

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