99,9 Prozent der Deutschen waren 2019 krankenversichert. Das klingt nach medizinischer Versorgung für alle – dennoch ist Gesundheit in Deutschland sehr ungleich verteilt: Ärmere Menschen haben eine geringe Lebenserwartung, das zeigen Studien immer wieder. Wie kann das sein?

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In den vergangenen Jahrzehnten ist die mittlere Lebenserwartung in Deutschland stetig gestiegen. Verglichen mit dem Jahr 1950 leben Männer und Frauen heute rund 14 Jahre länger. Eigentlich eine positive Entwicklung.

Doch dieser jahrzehntelange Trend ist seit ein paar Jahren leicht rückläufig. Die Corona-Pandemie erklärt dies nur zum Teil. "Die mittlere Lebenserwartung ist auch gesunken, weil die Spreizung zwischen Arm und Reich immer weiter zunimmt", sagt Mediziner Dr. Frank Lehmann, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP). "Aus Großbritannien wissen wir, dass die Stagnation und der Abfall der mittleren Lebenserwartung mit der zunehmenden Spreizung zwischen Arm und Reich zu tun hat. Die Lebenserwartung sozial benachteiligter Gruppen fällt so stark, dass sie durch den Anstieg der Lebenserwartung bei anderen Gruppen nicht mehr ausgeglichen wird."

Armut in Deutschland

  • Im Jahr 2022 galten in Deutschland 12,2 Millionen Menschen als armutsgefährdet. Das entspricht 14,7 Prozent der Bevölkerung.
  • Diese Kennzahl betrifft Personen, die weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens erhalten – oder anders ausgedrückt: Personen, die monatlich weniger als 1.250 Euro zum Leben haben.
  • Für Familien liegt die Armutsgrenze bei einem monatlichen Einkommen von 2.625 Euro.

Tatsächlich ist die Lebenserwartung von Frauen und Männern in Deutschland ungleich verteilt. In einer Studie haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Robert-Koch-Instituts (RKI) 2014 die Bevölkerung in fünf Einkommensgruppen unterteilt und ihre Lebenserwartungen verglichen. Demnach leben die Menschen in der reichsten Einkommensgruppe rund zehn Jahre länger als die in der ärmsten Gruppe. Je ärmer ein Mensch ist, desto geringer ist seine Lebenserwartung.

Arme häufiger von chronischen Erkrankungen betroffen

Ärmere Menschen werden nicht nur mit höherer Wahrscheinlichkeit krank, sie erkranken auch früher als reichere Menschen. "Das gilt im Grunde für fast alle Erkrankungen", sagt Lehmann. So leiden benachteiligte Gruppen häufiger an chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes und Depressionen und erleiden bis zu dreimal häufiger einen Herzinfarkt oder Schlaganfall.

Doch wie kann das sein, wo doch 99,9 Prozent der Deutschen krankenversichert sind? "Dieser Unterschied zwischen Arm und Reich wird nur zu 30 Prozent durch die medizinische Versorgung erklärt, aber zu 70 Prozent durch die weiteren sozialen Lebensbedingungen", sagt Lehmann.

Menschen ohne Krankenversicherung

  • Laut des Statistischen Bundesamts sind in Deutschland rund 61.000 Personen nicht krankenversichert. Diese Zahl bezieht sich allerdings nur auf in Deutschland gemeldeten Personen. Expert:innen gehen von 500.000 bis eine Million Menschen ohne Krankenversicherung aus.
  • Menschen ohne Krankenversicherung können bei Einrichtungen von Ärzte der Welt oder des Malteser Hilfsdienstes Unterstützung bekommen.

Armut bedeutet Stress

"Wenn ich mir jeden Tag Gedanken machen muss, wie ich die Miete bezahle oder die Kinder durchbringe, dann stehe ich unter existenziellem Stress", sagt Lehmann. Stress an sich sei schon ein Risikofaktor für verschiedene Erkrankungen, er fördere aber zudem gesundheitsschädliches Verhalten.

"Wer unter Stress steht, greift beispielsweise eher zu Zigaretten", sagt Lehmann. Studien belegen, dass Rauchen mit sozialer Ungleichheit zu tun hat: Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischem Status in Bezug auf Bildung, Einkommensverhältnisse und Wohnort rauchen häufiger als ihre reicheren Altersgenossen.

Auch bei Ernährung und Sport gibt es Unterschiede zwischen Arm und Reich: Ärmere Gruppen ernähren sich im Schnitt schlechter und bewegen sich weniger. Entweder, weil das Bewusstsein dafür fehlt oder das Geld.

Allen Menschen mit Krankenversicherung stehen zwar Vorsorgeuntersuchungen und Kursangebote, etwa zum Abnehmen, zur Verfügung. "Aufgrund der hohen Anforderungen im alltäglichen Leben nehmen viele diese Angebote aber nur unzureichend wahr", sagt Lehmann.

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Menschen in den unteren Einkommensschichten arbeiten auch häufiger unter schlechteren Arbeitsbedingungen. Körperlich belastende Berufe, die zu Folgeerkrankungen führen können, sind häufiger schlecht bezahlt. "Im Zweifelsfall macht man den Job wirklich nur, um zu überleben – und nicht, weil er einem viel Spaß macht. Auch das ist Stress."

Und wer weniger Geld für die Miete hat, lebt mit höherer Wahrscheinlichkeit in schlechterer Wohnlage. Einer EU-Studie zufolge leben sozioökonomisch schlechter gestellte Menschen häufiger in Regionen mit viel Verkehr und Industrie und sind dadurch stärker Luftverschmutzung wie Feinstaub ausgesetzt.

Das gilt vor allem für Länder im Süden und Südosten Europas, aber auch für Stadtviertel in westlichen Mitgliedsstaaten. Allein in Deutschland stehen 32.300 Todesfälle in Zusammenhang mit zu viel Feinstaub in der Luft. Über längeren Zeitraum eingeatmet, führen Feinstaubpartikel nachweislich zu Erkrankungen der Atemwege, des Herz-Kreislaufsystems, des Stoffwechsels und des Nervensystems.

Bildung hat Einfluss auf Gesundheit

Die Lebensbedingungen, in denen viele ärmere Menschen stecken, machen also krank. Und diesen zu entrinnen, ist nicht einfach. Vieles hängt mit dem Bildungsstand zusammen: Wer eine bessere Bildung genossen hat, kommt nicht nur häufiger an weniger belastende und gut bezahlte Jobs, wohnt in gesünderer Umgebung und lebt oft auch gesundheitsbewusster. Doch die Bildungschancen in Deutschland hängen immer noch stark von der sozialen Herkunft ab. "Der zunehmende Reichtum hat nicht dazu geführt, dass die gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland verringert wurde", sagt Lehmann.

"Die Idee ist eher, dass schon Hebammen in der Geburtshilfeklinik Müttern in schwierigen Situationen Unterstützung auf Augenhöhe anbieten."

Frank Lehmann, Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention

Aber wie lässt sich der Gesundheitszustand von den Einkommensverhältnissen entkoppeln? Lehmann verweist bei der Frage auf die Kriterien, die der Kooperationsverbund "Gesundheitliche Chancengleichheit" aus über 70 bundesweiten Organisationen entwickelt hat. "Ganz wichtig ist, schon bei den Kindern anzufangen." Das bedeute eine enge Zusammenarbeit zwischen Sozialämtern, medizinischen Einrichtungen und Jugendhilfe.

"Das muss ganz niedrigschwellig ansetzen", sagt Lehmann. Niedrigschwellig heißt, dass Unterstützungsangebote durch Menschen vermittelt werden, denen die Betroffenen vertrauen. "Das Jugendamt kann das natürlich nicht einfach verordnen oder aufzwingen", sagt Lehmann. "Die Idee ist eher, dass schon Hebammen in der Geburtshilfeklinik Müttern in schwierigen Situationen Unterstützung auf Augenhöhe anbieten."

Alle Übergänge - von der Klinik in die Familie, von der Familie in die Kita, in die Schule, in den Beruf - müssten auf diese Art unterstützt werden. Aber das passiere heute noch zu wenig. "Das gelingt nur mit einer engen Zusammenarbeit. Aber wenn uns das gelingt, ist das eine Aufwärtsspirale", sagt Lehmann.

Über den Gesprächspartner

  • Dr. Frank Lehmann ist Mediziner und ehrenamtlich unter anderem im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP) tätig. Zuvor arbeitete er fünf Jahre bei der Bundesärztekammer und 20 Jahre bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).

Verwendete Quellen

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