Jeden Tag kommen Tausende Flüchtlinge in Deutschland an. Die Politiker ringen derweil nicht nur mit Lösungen, sondern auch mit einer Erklärung – und finden sie immer häufiger in dem Begriff "Völkerwanderung". Aber trifft diese Beschreibung überhaupt zu?

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Immer neue Züge kommen am Münchner Hauptbahnhof an, Tausende Flüchtlinge sind es jeden Tag. Und doch machen sie nur einen Teil der Menschen aus, die in diesen Tagen nach Deutschland oder Europa wollen. Die Politik steht dabei nicht nur vor der Herausforderung, die Asylbewerber aufzunehmen und ihre Anträge zu bearbeiten – auch rhetorisch werden die aktuellen Flüchtlingsströme zum Balanceakt: Wie soll man das alles erklären? Ein Wort taucht in diesem Zusammenhang immer häufiger auf: Völkerwanderung.

"Wir haben es hier mit einer großen Völkerwanderung zu tun. Das kann doch niemand mehr bestreiten", sagte allen voran Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer unlängst im "ZDF-Sommerinterview". Auch Linke-Politiker Gregor Gysi, Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow und einige andere griffen den Ausdruck auf.

Aber erleben wir gerade tatsächlich eine Völkerwanderung? Und was erwartet uns in Zukunft?

Begriff "Völkerwanderung" weckt gefährliche Assoziationen

Das Bild von der Völkerwanderung prägt sich leicht ein – aber es trifft nicht zu, wie Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück erklärt. "Ich würde den Begriff der Völkerwanderung nicht verwenden", sagt der Migrationsforscher im Gespräch mit diesem Portal. "Denn damit verbindet man große Massen von bewaffneten Menschen, die in der Spätantike das Römische Reich zerstören. Die als Horden die Zivilisation bedrohen. Aber was wir im Moment beobachten, hat mit solchen Bildern nichts zu tun. Solche Bilder sind eher gefährlich, weil sie falsche Assoziationen wecken."

Genau das Gegenteil sei in Deutschland der Fall: Die Bundesrepublik habe in der Vergangenheit einiges an Erfahrungen mit Migration und großen Bewegungen gesammelt, sagt Oltmer – ohne Gefahr für die Gesellschaft, wie der Begriff Völkerwanderung suggeriert.

Hinzu kommt, dass der Ausdruck schon in seinem ursprünglichen Kontext kontrovers diskutiert wird: "Die historische Völkerwanderung der Spätantike ist in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion sehr umstritten. Inzwischen gehen viele Historiker davon aus, dass es so etwas wie eine Völkerwanderung nie gegeben hat. Die Vorstellung von großen wandernden germanischen Stämmen oder Völkern ist so nicht nachweisbar. Man weiß, dass es zwar Bewegungen gegeben hat – aber das waren eher Heere und Truppen mit Familienanhang und keine Bevölkerungen."

Menschen fliehen vor Krieg und Naturkatastrophen

Heute gibt es laut Oltmer gemeinhin vor allem drei Gründe, sich auf den Weg in ein anderes Land zu begeben. "Den allergrößten Teil der Migranten machen Menschen aus, die glauben, sie hätten an einem anderen Ort bessere Chancen." Arbeit, Ausbildung, Studium, Lebensstandard – all das gelte fernab der Heimat als besser.

Die zweite Ursache sei die sogenannte Gewaltmigration oder Zwangsmigration. Hierbei zwingen Verfolgung, Krisen oder autoritäre Systeme die Menschen zur Flucht. Aber: "Die meisten Gewaltmigranten bleiben in der Konfliktregion. Das lässt sich gut am Beispiel Syrien erkennen: "Viele Millionen Menschen flüchten in andere Teile des Landes oder in Nachbarstaaten wie die Türkei und den Libanon", erläutert Oltmer. Laut UN-Angaben leben 86 Prozent der weltweit 60 Millionen Flüchtlinge in Entwicklungsländern. Die reichen Länder sind also weit weniger davon betroffen als mancher angesichts aktueller Flüchtlingszahlen in Europa vermuten könnte.

Der dritte Grund seien unmittelbare Notlagen oder Naturkatastrophen wie ein Vulkanausbruch oder eine Überschwemmung, der die Menschen ausweichen müssen. Auch wenn dieser Punkt in Diskussionen bisher kaum eine Rolle spielt, könnte er aufgrund des Klimawandels in Zukunft an Bedeutung gewinnen.

Mehr Migration in Zukunft?

So vielschichtig wie in der Theorie läuft die Migration auch in der Praxis ab. "Eine Mischung mehrerer Faktoren sorgt derzeit für eine relative hohe Zahl an Flüchtlingen in Deutschland: In der Nähe Europas gibt es mehrere Krisenherde wie Syrien, viele europäische Staaten nehmen nur wenige Flüchtlinge auf und das Dublin-System ist zusammengebrochen", erklärt Oltmer. Gemäß dem Dublin-Abkommen sollten Asylbewerber eigentlich dort aufgenommen werden, wo sie zuerst ankommen – doch diese Verteilung funktioniert längst nicht mehr.

Die Folgen davon bekam gerade Deutschland zuletzt besonders zu spüren. Was in diesem Zusammenhang jedoch leicht übersehen wird: die Abwanderung. Das zeigen auch die jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamts von vergangener Woche. Demnach zogen 2014 zwar rund 1,4 Millionen Menschen nach Deutschland; gleichzeitig verließen aber auch etwa 900.000 das Land wieder. Und in der Vergangenheit gab es bereits Jahre mit mehr Ab- als Zuwanderung.

Aber könnte sich dieses Verhältnis nicht in Zukunft radikal ändern, wenn die globale Ungleichheit wächst und immer mehr Menschen ihre Chance woanders suchen? Migrationsforscher Oltmer glaubt das nicht. Denn Personen würden sich eher von einem reichen Land in ein anderes reiches Land bewegen oder von einem Entwicklungsland in ein anderes Entwicklungsland. Anders als die meisten Europäer, könnten sich etwa viele Afrikaner eine teure Reise über lange Distanzen nicht leisten - Oltmer spricht von einer "migratorischen Klassengesellschaft". Zudem baue Migration oft auf Netzwerke, also Verwandte und Bekannte in möglichen Zielländern. Doch historisch bedingt seien diese Netzwerke zwischen Europa und anderen Teilen der Welt nur schwach ausgeprägt.

Die Völkerwanderung bleibt damit erst einmal ein plakativer Ausdruck für Politiker. Die Herausforderungen der aktuellen Flüchtlingskrise aber bleiben.

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