Seit Wochen kommen täglich Tausende Flüchtlinge über Österreich nach Deutschland. Für die Polizei ist dies ein enormer Kraftakt. 500.000 Überstunden haben die Polizisten bisher geleistet. Ein Ende ist nicht in Sicht.

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"Wir saufen ab" – der viel zitierte Hilfeschrei von Frank Koller, Sprecher der Polizeiinspektion Freyung, zur Lage an den Grenzen bei Passau, sorgte für Aufsehen: Angesichts Tausender Flüchtlinge, die täglich über die Grenze nach Deutschland wollen, ist die Bundespolizei am Limit: zu wenig Personal, zu viele Überstunden.


Koller machte in der vergangenen Woche damit klar: So kann es nicht weitergehen. Täglich stehen ein paar Hundert Bundespolizisten einer Flut von Flüchtlingen gegenüber, im Bereich Passau sind es zwischen 250 und 300.

Sie kontrollieren Bahnhöfe, kümmern sich um die sogenannten Fast-IDs, transportieren und bewachen die Flüchtlinge von der Grenze zu den Unterkünften, und sie koordinieren deren Weitertransport sowie alle anderen Abläufe. Doch dafür gebe es "einfach zu wenig Einsatzkräfte", sagt Koller im Gespräch. "Wir sind auf Kante genäht."

Bundesweit fehlen grundsätzlich 3.600 Beamte

Angesichts des starken Flüchtlingsandrangs hatte Deutschland am 13. September vorübergehend Grenzkontrollen eingeführt und diese mehrfach verlängert. Zuständig dafür ist die Bundespolizei.

Wie uns diese auf Nachfrage mitteilt, sind insgesamt rund 8.000 Bundespolizisten im Einsatz, davon 1.500 an der deutsch-österreichischen Grenze.

Allerdings: Bundesweit fehlen grundsätzlich 3.600 Beamte, an der deutsch-österreichischen Grenze etwa 800, wie uns Jörg Radek, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei (GdP) verrät. "Die Flüchtlingskrise trifft uns zu einem Zeitpunkt, wo wir ohnehin unterbesetzt sind. Wir sind seit acht Jahren personell unterbesetzt."


An der Grenze zu Österreich habe man das Kontingent bereits vervierfacht.

Wöchentlich 80 Stunden Dienst

Trotz der Verstärkung der Mannschaft sind die Polizisten dort zwölf bis 13 Stunden im Einsatz. Manche von ihnen sogar länger, wenn es die Lage an der Grenze erfordert.

"Einige Beamte haben zudem noch etliche Überstunden aus dem G7-Einsatz auf ihrem Konto", sagt Koller. Er sprach von einem "Katastropheneinsatz", der die Kollegen sehr belaste.

Eine Übertreibung? Keineswegs. Das Innenministerium bestätigt unserer Redaktion dies schriftlich. Aus dem uns vorliegenden Papier geht hervor: Bundespolizisten haben im Einsatz an den Grenzen wöchentlich 80 Stunden Dienst. Normal sind 39, 40 oder 41 Stunden.

"Es wurden im Zeitraum 13. September bis zum 16. Oktober 2015 Mehrleistungen von ca. 500.000 Stunden erbracht", heißt es in der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen.


Jörg Radek, Vizechef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), zeigt sich pessimistisch, dass dieser Berg an Überstunden jemals abgebaut werden kann. Im Gespräch sagt er, es müsse unbedingt zu einem Ausgleich kommen. Wie dieser aussehen könnte, sei noch unklar.

Wer so viele Überstunden leistet, hat nur wenig Zeit sich zu erholen. "Man achtet zwar darauf, dass die Beamten ihre Ruhezeiten einhalten, aber das ist nicht stringent", erklärte Radek.

Bei der enormen Arbeitsleistung sei viel zu wenig Zeit, um sich von den Strapazen zu erholen. Das wiederum geht zu Lasten der Gesundheit. Auch das Familienleben der Polizisten komme dadurch zu kurz.

Polizisten werden verschlissen

Mit Blick auf die psychische Belastung sagt Radek: "Die Polizisten haben kaum Zeit, Erlebtes zu verarbeiten". Die Beamten behandeln "die Flüchtlinge mit einem hohen Maß an Empathie. Sie kümmern sich etwa um die Kinder, bringen ihnen Spielzeug und Decken."

Vor allem aber frierende Flüchtlingskinder zu sehen, gehe den Kollegen sehr nahe. "So hart gesotten, wie die Beamten sind, das schüttelt man nicht so einfach ab. Der Arbeitseinsatz der Kollegen vor Ort macht mich demütig", so Radek.

Die Stimmung bei den Kollegen vor Ort sei sehr gemischt. Vor allem hinsichtlich des Arbeitseinsatzes der Bundespolizei betont Radek: "Wenn das noch länger so geht, wird das zu Lasten der Motivation gehen".


Da die Beamten viele andere Aufgaben zu erledigen hätten, könnten sie sich nicht um ihre eigentliche Aufgabe kümmern: den Grenzschutz. Man verschleiße Polizisten. An dieser Situation seien keineswegs die Flüchtlinge schuld, sondern die Politiker, betonte Radek ausdrücklich im Gespräch.

Es seien viele Planstellen abgebaut worden und es habe Kürzungen gegeben.

Sicherheitsrelevante Aufgaben seien nicht mehr hinreichend zu erfüllen

Dadurch ist ein weiteres Problem hausgemacht: Die Verstärkung der Polizei an der Grenze geht zu Lasten anderer Bereiche.

Vor allem die Bundesbereitschaftspolizei ist Radek zufolge davon betroffen. Sicherheitsrelevante Aufgaben seien nicht mehr hinreichend zu erfüllen, sagte er mit Blick auf kritische Fußballspiele. Hier übernimmt zum Teil die Landespolizei.

Das Papier des Innenministeriums zeigt, dass 34 von insgesamt 145 Bundespolizeirevieren in Deutschland "nicht durchgehend besetzt werden" können. Vor allem Nordrhein-Westfalen sticht hier heraus. Dort sind elf Bundespolizeireviere betroffen. Sieben sind es in Bayern.

"Außerdem haben wir Dienststellen, die nur zu 60 Prozent besetzt sind", sagt Radek.

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