• Das Landkärtchen ist "Insekt des Jahres 2023".
  • Das Kuratorium wählte den bunten Schmetterling nicht in erster Linie wegen seiner Schönheit aus, sondern weil das Tier besondere Ansprüche an seinen Lebensraum stellt.
  • Diese weisen auf mehrere Probleme hin, die wir Menschen verursacht haben: Überdüngung, Verarmung der Kulturlandschaft, Klimawandel und damit letztlich Verlust der Biodiversität.

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Landkärtchen (Araschnia levana) schlüpfen in zwei Generationen pro Jahr; die erste kämpft sich im April aus ihren Kokons. Und wenn die Falter mit zusammengeklappten Flügeln auf einer Blüte hocken, erkennt man leicht, wie sie zu ihrem Namen kommen: Die Unterseite ihrer Flügel, dunkelbraun mit gelblich-weißen Linien und Adern, erinnert an eine Landkarte. Die Oberseite der Frühlings-Landkärtchen leuchtet orange mit schwarzen Tupfen und ist mit einem schmalen weiß-schwarzen Band gesäumt.

Der einzige Schmetterling, der Ei-Schnüre legt

Nach der Paarung hängen die Weibchen ihre Eier an die Unterseite von Blättern der Großen Brennnessel (Urtica dioica). Und das tun sie auf besondere Weise: Sie hängen die grünen Zylinderchen in einer sogenannten Ei-Schnur auf, jeweils etwa ein Dutzend davon zusammen. "Das macht kein anderes Insekt in Europa", sagt Thomas Schmitt, Vorsitzender der Jury und Direktor des Senckenberg Deutschen Entomologischen Instituts in Müncheberg.

Aus diesen Eiern schlüpfen schwarze, stachelige Raupen. Sie fressen sich an den Brennnesseln satt, häuten sich ein paarmal und verpuppen sich schließlich. Die Schmetterlinge dieser zweiten Generation sehen allerdings völlig anders aus als ihre Eltern: Ihre Flügel sind schokoladenbraun, fast schwarz, mit einer breiten weißen Linie und orangefarbenen Strichen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen bei diesem Phänomen von einem Saison-Dimorphismus.

Das Landkärtchen hat in den vergangenen Jahrzehnten einen kurzen, aber starken Aufschwung erlebt. "Noch vor 100 Jahren war es in Deutschland wirklich selten", sagt Thomas Schmitt. Sein Vorkommen beschränkte sich fast ausschließlich auf Auwälder. Denn die übrige Landschaft bot einfach zu wenig Nährstoffe für seine Wirtspflanzen, die Brennnesseln. Erst in den 1950er-Jahren begannen Landwirte, ihre Felder und Wiesen flächendeckend und intensiv mit Stickstoff zu düngen. Eine Überdosis, die in den folgenden Jahrzehnten stetig gewachsen ist.

Profiteur der Überdüngung – Verlierer im Klimawandel

Bis heute bilden die Emissionen aus der intensiven Viehhaltung den Hauptanteil an der sogenannten Eutrophierung. Aber auch Autos, Industrie oder Heizungsanlagen blasen Stickoxide und Ammoniakverbindungen in die Luft. Die spült der Regen in den Boden. Von dieser Stickstoffüberdosis profitieren nährstoffliebende Pflanzen wie eben die Brennnesseln.

Der Erfolg der Brennnesseln allein ist für den Falter allerdings keine Überlebensgarantie: Vielmehr könnte er seine günstigste Zeit in Deutschland schon wieder hinter sich haben. "Wir beobachten, dass das Landkärtchen zum Verlierer des Klimawandels wird", sagt Thomas Schmitt. Zwar hat es die Erwärmung dem Insekt ermöglicht, sich bis ins südliche Skandinavien auszubreiten. Hierzulande und noch weiter südlich wird es ihm aber schon wieder zu heiß. Wobei ihn nicht so sehr die hohen Temperaturen stören, sondern deren Folgen: die Veränderung seiner Wirtspflanze.

"Nicht jede Brennnessel ist gut für das Landkärtchen", sagt Josef Settele vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ). Der Vorsitzende der Gesellschaft für Schmetterlingsschutz und Schirmherr des "Insekt des Jahres 2023" erläutert, dass die Eier des Schmetterlings sich nur bei hoher Luftfeuchtigkeit entwickeln können. Darum bevorzugen die Tiere Pflanzen, die in feuchten Hochstaudenfluren wachsen, etwa in Bach- und Flusstälern. Solche feuchten Refugien sind in den vergangenen Jahren aber zusehends rar geworden.

Das Landkärtchen hat noch nicht alle Geheimnisse preisgegeben

Zudem macht die Verarmung der Landschaft den Faltern zu schaffen. Sie brauchen Gebüsche und Hecken, Wegränder und Gärten mit reichlich Blüten, Waldränder, die nicht mit dem Lineal gezogen sind, sondern allmählich in offene Wiesen übergehen. Doch solche lebensspendenden Landschaftselemente verschwinden; vor allem Landwirte neigen dazu, alles zu entfernen, was die schnelle Bearbeitung großer Flächen behindert. Das befördert das Insektensterben.

Der Rückgang der Falter ist auch deshalb bedauerlich, weil das Geheimnis seiner komplexen Fortpflanzungsstrategie noch lange nicht gelüftet ist. Warum sehen die beiden Generationen des Landkärtchens so verschieden aus? Manche Forscher haben vermutet, die orangefarbenen Flügel könnten Fressfeinde abschrecken, oder die dunkle Färbung biete im Sommer bessere Tarnung, weil sie den jahreszeitlich bedingt härteren Kontrasten zwischen grellem Sonnenlicht und tiefen Schatten entspreche. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben versucht, diese Hypothesen in Experimenten etwa mit Blaumeisen zu untermauern – bislang vergeblich.

Martin Wiemers, der Kurator der Schmetterlingssammlung am Deutschen Entomologischen Institut, weist darauf hin, wie schwierig solche Zusammenhänge in Experimenten zu belegen sind. Vielleicht, sagt er, hätte die Dimorphismus-Strategie des Landkärtchens Gründe, die weit zurückliegen: Als sich die Falter vor Millionen von Jahren entwickelten, hätten womöglich ganz andere Bedingungen als heute geherrscht, andere Fressfeinde sie bedroht. Diese Bedingungen sind heute nicht mehr zu rekonstruieren. "Es ist deshalb fraglich, ob wir die Ursprünge der Landkärtchen-Evolution jetzt noch mit Experimenten feststellen können", sagt der Insektenforscher.

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Lange Tage – dunkle Flügel

Gut erforscht ist hingegen, wie der Farbwechsel zwischen den beiden Generationen praktisch funktioniert. Sind die Tage im April ausreichend lang, schütten die Raupen früh in ihrer Entwicklung Hormone aus der Gruppe der Ecdysteroide aus. Diese Raupen entwickeln sich ohne Pause in der Puppe zu den Sommer-Landkärtchen mit den schwarzen Flügeln.

Im Herbst, wenn die Tage kürzer sind, bilden die Raupen ihre Hormone erst spät. Das hat zur Folge, dass die Tiere im Kokon eine sogenannte Diapause einlegen. Sie warten auf den Frühling. Um im nächsten Jahr wieder als orangefarbener Schmetterling zu schlüpfen.

Verwendete Quellen:

  • Webseite des Senckenberg Deutsches Entomologisches Institut (SDEI)
  • Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung: Josef Settele
Dieser Beitrag stammt vom Journalismusportal RiffReporter. Auf riffreporter.de berichten rund 100 unabhängige JournalistInnen gemeinsam zu Aktuellem und Hintergründen. Die RiffReporter wurden für ihr Angebot mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.

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