Den Gründungsmythos der Vereinigten Staaten bilden die 1607 errichtete Siedlung Jamestown sowie die Ankunft der Pilgerväter im Jahr 1620. Doch schon zwei Jahrzehnte zuvor hatte es bereits auf der Insel Roanoke den Versuch einer Koloniegründung gegeben, doch die Siedler verschwanden spurlos. Bis heute rätselt man über ihren Verbleib. Nun ist die Forschung auf neue Spuren gestoßen.

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Die erste englische Kolonie in Nordamerika wurde 1585 auf der Insel Roanoke Island gegründet. Über 100 Siedler kamen für eine gute Ernte jedoch zu spät ins Land und kehrten deshalb bald wieder nach England zurück.

Zwei Jahre später erreichten 150 neue Siedler unter Führung von Gouverneur John White die Insel an der Ostküste Nordamerikas und Whites hochschwangere Tochter Eleanor brachte schließlich das erste englische Kind auf amerikanischem Boden zur Welt.

Um einem Versorgungsengpass entgegenzuwirken, kehrte White nach England zurück. Der Ausbruch des Kriegs zwischen England und Spanien verzögerte jedoch seine Rückkehr bis 1590. Als er schließlich wieder auf Roanoke Island ankam, fand er die Kolonie vollkommen verlassen vor. In einen Baum fand sich allerdings das Wort "Croatoan" eingeritzt – der Name einer weiter südlich gelegenen Insel.

Wegen schlechtem Wetter und technischen Schwierigkeiten konnte White auf dieser Insel allerdings nicht anlegen und so musste er nach England zurückkehren, wo er 1593 starb. Spätere Expeditionen blieben erfolglos: Die Männer, Frauen und Kinder der einstigen Kolonie Roanoke blieben verschwunden.

Blonde Indianer und englische Inschriften

Im Laufe der Zeit gab es immer wieder Mutmaßungen darüber, was mit den Siedlern von einst geschehen sein könnte. Neben Angriffen von Ureinwohnern wurde auch vermutet, dass die Siedler mit einem Schiff weiterreisten oder bei einer versuchten Heimkehr auf dem Atlantik ums Leben kamen.

Beliebt war auch die Theorie, dass sich die Siedler Indianern angeschlossen hätten. Befeuert wurde dies durch wiederkehrende Berichte von Indianern mit hellen Haaren und Augen.

Eric Klingelhofer, Professor für Geschichte an der Mercer University in Macon, Georgia, hält im Gespräch mit unserer Redaktion solche Berichte für durchaus glaubwürdig, "aber nur im Kontext natürlicher Variationen von Haut- und Haarfarben und – wichtiger – des wahrscheinlichen Einflusses besuchender englischer (und anderer) Soldaten und Seeleute im 16. und 17. Jahrhundert auf den Genpool an der Küste von North Carolina."

Es gab auch Versuche, mit Hilfe moderner Genetik Spuren der verschwundenen Siedler zu entdecken. Die First Colony Foundation (FCF), deren Vizepräsident Klingelhofer ist und die seit 2003 die kolonialen Anfänge Amerikas auch archäologisch erforscht, bezweifelt den Nutzen solcher Methoden: Heutige Amerikaner, die beanspruchen, von besagten Siedlern abzustammen, haben heute in der Regel bereits eine gemischte Abstammung und neben europäischen auch indianischen und afrikanischen Vorfahren.

"Selbst bei einem gut erhaltenen Skelett sind einige Teile der DNS-Sequenzen kein überzeugender Beweis für eine lineare Verbindung", meint Klingelhofer.

In den 1930er Jahren tauchte eine Reihe beschriebener Steine auf, die sogenannten Dare Stones. Die Inschriften beschrieben die weitere Geschichte der Siedler und wurden angeblich von Whites Tochter Eleanor Dare verfasst.

Sie gelten mittlerweile jedoch als Fälschung: "Der erste Stein mag sich von den anderen unterscheiden, aber er ist ohne Zweifel ebenfalls eine Fälschung", betont Klingelhofer. "Das darauf befindliche Datum fußte auf dem Kalender, von dem angenommen wurde, dass er von White verwendet wurde. Erst später im 20. Jahrhundert konnte nachgewiesen werden, dass White den traditionellen Julianischen Kalender gebrauchte."

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Eine andere verschwundene Siedlung taucht wieder auf

Momentan steht eine Fundstätte, die als "Site X" bezeichnet wird, besonders im Blick der Forscher. Auf den 50 Meilen landeinwärts von Roanoke gelegenen Ort im heutigen Bertie County waren sie durch eine von White mitgeführte Landkarte gestoßen.

Auf dieser war an dem Ort ursprünglich das Symbol für eine Befestigungsanlage eingezeichnet, das allerdings überklebt worden war. Könnten die verschwundenen Siedler hier untergekommen sein?

"Scherben englischer Haushaltskeramik von 'Site X' zeigen, dass eine kleine Gruppe, vielleicht eine einzige Familie, den an das Algonkin-Dorf Mettaquem anschließenden Ort bewohnte", fasst Klingelhofer den aktuellen Stand zusammen.

Er weist darauf hin, dass man dabei den damaligen Konflikt der Engländer mit den Spaniern nicht außer Acht lassen dürfe. Vermutlich war das Symbol der Befestigungsanlage nicht mehr erwünscht, da sich die ursprünglichen Pläne geändert hatten. "Höchstwahrscheinlich sollte Carolina Siedlern und Händlern überlassen werden, während die Chesapeake Bay der geplante Standort für Privatpersonen und Expeditionen zu gemeldeten Kupfer- und Silberminen im Westen war. Die Bedrohung durch die spanische Armada hat all das beendet."

Auch untersucht die FCF weitere Orte und hofft auf vergleichbare Funde zu stoßen. Roanoke Island selbst soll ebenfalls weiter erforscht werden, da der Ort der ursprünglichen Siedlung bisher noch nicht gefunden wurde. Die Insel ist mittlerweile der Gefahr der Erosion ihrer Küste ausgesetzt.

Morde, Ghule und Geister

Das Rätsel um die verschwundene Kolonie klingt wie die Geschichte eines Films. Bisher hat aber niemand – von einem kurzen Stummfilm von 1921 abgesehen – versucht, einen Historienfilm daraus zu machen.

Stattdessen finden sich in einer Reihe von Produktionen Anspielungen darauf. "Das Kino hat die Geschichte möglicherweise als zu schwierig empfunden", vermutet Klingelhofer, vielleicht waren aber auch Jamestown und die Pilgerväter einfach der wirkungsvollere Mythos.

"Leider hat die Fernsehindustrie festgestellt, dass die Geschichte der verschwundenen Kolonie einen modernen Geschmack für das Makabre anspricht – Morde, Ghule und Geister sind jetzt mit dem Rätsel um Roanoke verbunden." So werden etwa im Horrorfilm "Lost Colony" von 2007 die Siedler durch bösartige Geister getötet.

Über den Experten: Dr. Eric Klingelhofer ist emeritierter Professor für Geschichte an der Mercer University in Macon, Georgia und Gründungsmitglied als auch Vizepräsident der First Colony Foundation.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Dr. Eric Klingelhofer
  • Offizielle Homepage der First Colony Foundation
  • Berthold Seewald: Das älteste Rätsel der USA wird entschlüsselt, Die Welt
  • Andrew Lawler: Archaeologists start a new hunt for the fabled Lost Colony of the New, AAAS
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