"Lass dir keine grauen Haare wachsen", heißt es sprichwörtlich, wenn jemand von zu vielen Sorgen und Ängsten umgetrieben wird. Dass dieses Sprichwort einen tieferen Ursprung hat, das beweisen nun Forscher. Denn Stress kann Haare vorzeitig ergrauen lassen, wie ein Experiment an Mäusen zeigt.

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Es gibt zahlreiche Anekdoten, in denen davon berichtet wird, dass ein Mensch aufgrund von starkem Stress "über Nacht" ergraut. Die französische Königin Marie Antoinette etwa soll vor ihrer Hinrichtung auf der Guillotine - 1793, auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution - plötzlich weiße Haare bekommen haben. Und auch vielen Politikern wird nachgesagt, mit der Last ihres Amtes vorzeitig ergraut zu sein, etwa dem ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama.

Forscher haben nun zumindest für das Fell von Mäusen nachgewiesen, dass Stress durchaus für ein vorzeitiges Ergrauen der Haare sorgen kann. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Aktivierung bestimmter Nerven. Sie schädigen Stammzellen dauerhaft, die die Farbpigmente der Haare bilden - die Haare wachsen weiß nach.

Ob dem Ergrauen beim Menschen im Alter die gleichen Vorgänge zugrunde liegen, müsse weiter untersucht werden, sagen Experten. Ebenso die Frage, ob sich ein Ansatzpunkt finden lässt, um das Ergrauen zu stoppen oder zu verzögern.

Stress wirkt auf Stammzellen am Haarfollikel

Die Frage, ob Stress tatsächlich die Haarfarbe beeinflusst, ist schon häufiger Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gewesen. Die Forscher um Bing Zhang vom Harvard University and Harvard Stem Cell Institute, die ihre Ergebnisse im Fachmagazin "Nature" präsentieren, untersuchten dies nun an Mäusen. Sie hatten eher zufällig entdeckt, dass dunkle Mäuse unter Stress weißes Fell bekommen. Um der Ursache auf die Spur zu kommen, stressten sie die Tiere gezielt, unter anderem fügten sie ihnen Schmerzreize zu.

Sie stellten fest, dass Stress auf bestimmte Stammzellen am Haarfollikel wirkt - und zwar auf die Stammzellen, aus denen Melanozyten hervorgehen. Melanozyten sind die Zellen, die den Farbstoff Melanin produzieren, der den Haaren ihre jeweilige Farbe verleiht. Wenn ein Haar in die Wachstumsphase eintritt, beginnen einige der Stammzellen, neue Melanozyten zu bilden. Danach gehen sie in einen Ruhemodus.

Zahlreiche Hypothesen erwiesen sich als Irrweg

Wie aber werden die Stammzellen geschädigt? Um das herauszufinden, benötigten die Forscher eine Menge Geduld: Zahlreiche Hypothesen erwiesen sich als Irrweg. So waren weder ein überaktives Immunsystem noch das Stresshormon Cortisol für die Schädigung der Stammzellen verantwortlich - die Tiere ergrauten auch dann, wenn ihnen entsprechende Immunzellen fehlten oder sie gar kein Cortisol bilden konnten.

Schließlich kamen die Forscher auf die Spur des sympathischen Nervensystems - das ist jener Teil des Nervensystems, der die Reaktionen des Körpers auf Stress und Gefahren steuert. Es versetzt ihn etwa in einer Gefahrensituation in Reaktionsbereitschaft, was auch als "Kampf oder Flucht"-Reaktion beschrieben wird.

Sympathische Nerven enden auch an den Haarfollikeln. Bei Stress setzen die Nerven große Mengen an Noradrenalin frei. Dieser Botenstoff wird von den Stammzellen aufgenommen, die daraufhin beginnen, Melanozyten zu bilden. Allerdings werden nicht nur einige der Stammzellen aktiv, sondern quasi alle gleichzeitig. Das Stammzell-Reservoir erschöpft sich in kürzester Zeit.

Akuter Stress erschöpft den Stammzellenvorrat

"Als wir mit der Untersuchung anfingen, rechnete ich damit, dass Stress schlecht für den Körper ist - aber der schädliche Effekt von Stress, den wir gefunden haben, war weit mehr als ich erwartet hatte", erläuterte Studienleiterin Ya-Chieh Hsu. "Nach nur einigen Tagen waren alle Pigment-bildenden Stammzellen verschwunden. Sind die einmal weg, können Pigmente nicht erneuert werden. Der Schaden ist permanent."

"Akuter Stress, vor allem die 'Kampf oder Flucht'-Reaktion, wird gemeinhin als nützlich für das Überleben eines Tieres angesehen", sagte Zhang. "In diesem Fall erschöpft akuter Stress den Stammzell-Vorrat."

Hat das plötzliche Ergrauen einen Nutzen?

Welchen Nutzen das plötzliche Ergrauen aus biologischer Sicht haben könnte, beschreiben Shayla Clark und Christopher Deppmann von der University of Virgina in einem Kommentar zu der Untersuchung. Graue Haare hängen in der Regel mit dem Alter zusammen und könnten demnach Erfahrung, Führungsstärke und Vertrauen signalisieren.

Bei Berggorillas zum Beispiel ergraue der Rücken der ausgewachsenen Männchen und es seien diese Silberrücken, die eine Gruppe anführen könnten. Möglicherweise habe ein Tier, das genug Stress ausgehalten habe, um graue Haare zu "verdienen", einen höheren Rang in der sozialen Hierarchie als es seinem Alter entspreche.

Ob Stress auch auf andere Stammzellen wirkt und möglicherweise die Gesundheit beeinträchtigen kann, sei ebenfalls eine interessante Forschungsfrage, schreiben die Wissenschaftler um Zhang. Sympathische Nerven regten nahezu alle Organe an, akuter Stress könnte über die Nervensignale einen breiten und schnellen Effekt auf viele Gewebe haben. (awa/dpa)

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