Schmelzende Gletscher, Felsstürze, Starkregen mit Murenabgängen: Die Klimakrise macht die Alpen gefährlicher. Margreth Keiler ist Professorin an der Universität Innsbruck und leitet das Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie erklärt, wie wir uns jetzt anpassen müssen.

Ein Interview

Frau Keiler, wie verändert die Klimakrise die Alpen?

Margreth Keiler: Wir sehen unterschiedliche Prozesse: Murenabgänge, Felssturz, Lawinen, Hochwasserereignisse, Rutschungen und immer stärker auch Waldbrände. Ein Treiber dafür sind die Veränderungen im Klima. Dazu kommt, dass sich Niederschlag auch saisonal verschiebt. Die Schneefallgrenze und die Schneemächtigkeit werden sich entsprechend der Höhenlage verändern. Bei Starkniederschlagsereignissen können wir die Wirkungen direkt sehen: Der Boden kann das Wasser nicht aufnehmen und es fließt sofort ab, was zu Murenabgängen und Hochwasser führen kann. Auf den Permafrost wirkt sich der Anstieg der Temperatur langfristig und nach und nach aus. Er ist in Felsschichten, aber auch in Schutt- und Moränenmaterial vorhanden. Bei langanhaltenden höheren Temperaturen erwärmen sich etwa Felswände und leiten Wärme weiter. Das Eis, das die Felsen auch zusammenhält, kann schmelzen.

Was ist die Folge?

Im Lockermaterial ist die Auftauschicht mit Wasser gesättigt. So kann Material abrutschen und Fels abbrechen. Das passiert etwa am Matterhorn immer wieder. Beim Permafrost wissen wir nicht, wann der Schwellenwert vorhanden ist, dass dessen Prozesse anders ablaufen als wir dies gewohnt sind.

Wie genau kann die Wissenschaft diese neuen Risiken bereits einschätzen?

Wir vermuten, dass Veränderungen häufiger vorkommen werden und in größerem Ausmaß. Es gibt allerdings noch Unsicherheiten darüber, wo die unterschiedlichen Naturgefahrenprozesse sich genau verstärken und ausbreiten und wie diese von der Hydrologie und Vegetation beeinflusst werden. Auch kann man noch nicht sicher sagen, wann und wo Hochwasser oder Murenabgänge auftreten werden und welche Auswirkungen dies hat.

Könnte man für bestimmte Orte denn das Risiko dieser Veränderungen bereits klar benennen?

Veränderungen können lokal sehr unterschiedlich sein. Wie Prozesse ablaufen, hängt etwa davon ab, wie das Gestein verwittert, wie der Untergrund und die Vegetation gestaltet sind und wie die Niederschlagsmuster sind. Im Jahr 2005 kam es in Österreich zu flächendeckenden Murenabgängen, Hangrutschungen und Hochwasser. Damals traten Niederschläge langfristig über mehrere Tage auf. Im vergangenen Sommer gab es lokale Gewitterzellen, die sich wenig bewegten. Starke Niederschlagsintensitäten konzentrierten sich in sehr kleinen Einzugsgebieten. Die Auswirkungen durch Muren und Hochwasser waren viel größer als man gedacht hätte. Unter den passenden Bedingungen kann es zu sehr großen Murenabgängen kommen.

Muss man also bei Starkregenereignisse immer mit Muren rechnen?

Kommt es wieder zu so einem Niederschlagsereignis, kann es sein, dass keine Muren abgehen – weil das Sediment schon mitgenommen wurde. Wir benötigen noch Forschungen, um zu sehen, wie sich solche Effekte auf die Einzugsgebiete auswirken. Kommt es zu einem Anstieg von größeren Ereignissen und einem Rückgang von kleineren Muren? Oder kommt es dann einmal zu einem Murenabgang und dann zu einem größeren Abfluss? Auch über sogenannte Multigefahren oder Kaskadeneffekte bestehen Unsicherheiten.

Worin bestehen diese Unsicherheiten?

Wenn gefrorene Felspartien aufschmelzen, werden sie locker und können abstürzen. Dadurch sammelt sich Material an und es kommt zu Sturzprozessen. Wenn die Kombination aus fein- und grobkörnigem Material stimmt und ausreichend Wasser hinzukommt, kann es als Murenabgang abgehen. Das kann zu großen Ereignissen mit großer Erosionskraft führen. Muren können Material mitnehmen, das vorher abgelagert war. Sie werden immer größer und können die Täler erreichen.

Muren können auch Überschwemmungen in den Alpentälern mit sich bringen – wie geht das?

Das Sediment, das sie mitnehmen, wird dann in die sogenannten Vorfluter eingelagert. Dadurch ist dort weniger Platz im Gerinne vorhanden. Bei Hochwasser kann der Vorfluter weniger Wasser aufnehmen. So kommt es Kilometer entfernt im Tal zu Überschwemmungen, weil in den Gipfelregionen der Permafrost aufgetaut ist.

Wird das in den Gefahrenzonenplänen berücksichtigt?

Solche Kaskadeneffekte werden in keinem Gefahrenzonenplan berücksichtigt. Das sind dann immer Überraschungen. Hier fehlen die Forschung und auch teilweise die Methoden. In der Forschung wird daran gearbeitet, sie vorherzusagen. Aber bis Schutzmaßnahmen in der Praxis umgesetzt werden, wird es noch einige Zeit dauern.

Können Sie mit einer Zahl festmachen, wie viel wahrscheinlicher solche Vorgänge werden?

Das ist sehr schwierig. Wir stützen uns auf Beobachtungen. Murenabgänge passieren immer in kleinen Einzugsgebieten, wo wir keine regelmäßigen Messungen durchführen. Oft werden sie nur bemerkt, wenn sich etwas grundlegend verändert, es etwa zu Sachschäden kommt. Zudem sind sie episodische Ereignisse. Das ist nicht wie ein Hochwasser, bei dem man weiß, wann es häufiger vorkommt, weil man Messungen zum Abfluss hat. Es können 20 Jahre keine Muren abgehen und dann zwei, drei hintereinander. Wir haben hier wenige Informationen. Darum versuchen wir bei einem Ereignis zu analysieren: Was waren die Ursachen? Was waren die Bedingungen? Sind ähnliche Vorgänge im gleichen Gebiet schon dokumentiert?

Wenn die Risiken steigen, warum sind die Schäden noch nicht sehr viel höher?

Die Schäden sind trotz Folgen des Klimawandels in den vergangenen Jahrzehnten gleichgeblieben. Das ist so, weil wir sehr viel Geld in den Bau von Schutzmaßnahmen investiert haben. Dadurch verändern wir auch das Auftreten dieser Ereignisse. Hier darf man einen anderen Punkt nicht vergessen, der nicht mit dem Klima zu tun hat. Wenn wir mehr in gefährdete Gebiete bauen, kommt es auch zu Schadereignissen und damit zu höherem Schaden. Das war eine andere Veränderung, die sich auch über die vergangenen Jahrzehnte gezogen hat. Das macht es schwierig, diese Effekte herauszufiltern. Im Juli 2021 setzte ein Hochwasser den Oberpinzgau im österreichischen Bundesland Salzburg unter Wasser. Damit das nicht erneut passiert, wollen Verantwortliche Staumauern in abgelegene Täler in den Hohen Tauern errichten. Ist das der richtige Weg? Das ist eine wichtige Frage, die wir als Gesellschaft diskutieren müssen. Schutzbauten wirken immer bis zu einer gewissen Größe des Ereignisses. Ein Damm ist etwa für ein Hochwasserereignis konzipiert, das statistisch alle 100 Jahre vorkommt. Durch das große Hochwasser im Jahr 2005 hat sich etwa die Statistik für viele Gebiete vollkommen verändert. Was früher ein 100-jährliches Ereignis war, wurde mancherorts ein 50-jährliches, weil man so ein Extrem noch nicht erlebt hat.

Brauchen wir also mehr Schutzbauten?

Schutzbauten können nur zu einem gewissen Grad schützen. Ich bin diesem Effekt in meiner Forschung in Bezug auf das Lawinenrisiko nachgegangen. Für die Schweiz habe ich eindeutig gesehen: Werden Schutzbauten errichtet, wird das Gebiet intensiver für Industrie, Tourismus und Privathäuser genutzt. Passt man die Gefahrenzonenkarte an und nimmt die rote und gelbe Zone zurück, stehen recht rasch Gebäude in gefährdeten Gebieten. Wenn dann etwa der Damm bricht, sind die Schäden viel größer, als wenn man etwa die Dämme nicht erhöht hätte. Das heißt, hier hatte man Kosten, konnte aber die Schäden nicht reduzieren.

Brauchen wir denn höhere Investitionen in Schutzbauten?

Das Geld, das zur Verfügung steht, wird zum Erhalt der Schutzbauten gebraucht. Das ist das eine Problem. Ein anderes ist: Weil die Schutzbauten wirken, gibt es weniger Schäden. Dadurch wird auch weniger Geld versprochen, um neue zu errichten. Das ist ein Kreislauf. Prozesse verändern sich durch den Klimawandel, aber auch durch unseren Eingriff durch die Schutzinfrastruktur. Aber auch die Gesellschaft ändert sich schneller. Es wird stark gebaut, das sieht man im Inntal und in stark touristisch genutzten Tälern. Wenn es dort zu einem größeren Ereignis kommt, sind auch die Schäden größer.

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Was muss heute passieren, damit alpine Naturgefahren nicht stark zunehmen?

Ohne die Emissionen zu reduzieren, wird es überhaupt nicht gehen. Zu glauben, wir müssen nicht unser Verhalten ändern, um klimaneutral zu werden, ist falsch. Das ist die höchste Priorität. Wenn die Emissionen so bleiben, wie sie jetzt sind, werden sich Naturgefahrenprozesse extrem verstärken. Auch wenn wir es schaffen, 2030 klimaneutral zu sein, werden sich die Prozesse intensivieren. Aber sie werden sich dann auf einem Niveau ausschleifen und nicht stärker ansteigen. Im Bereich Risikomanagement müssen wir beobachten und mit Szenarien versuchen vorherzusagen, wie sich Effekte verändern und wie unser Verhalten hier mit reinspielt. Und dann müssen wir Maßnahmen umsetzen, wo wir uns in Zukunft noch anzupassen haben. Wir dürfen keine Anpassungen treffen, die uns keine weiteren Optionen offenlassen.

Was sind sinnvolle Anpassungen?

Nehmen wir das Hochwasser. Irgendwann kann man die Dämme nicht mehr erhöhen. Zudem wird dadurch die Hochwasserwelle einfach schneller flussabwärts geleitet. So verschiebt man das Problem nur. Das wäre eine Einbahn. Wir brauchen eine Kombination aus unterschiedlichen Maßnahmen. Kleinere Ereignisse kann etwa ein Damm halten. Wird es größer, wird das Wasser abgeleitet, etwa durch Flussausweitungen oder auf Wiesen. Die kann man dann, solange das Wasser dort steht, natürlich nicht oder weniger nutzen. Hier muss man die Frage beantworten, wie das Wasser dann zurückgeleitet wird und wie Landwirte entschädigt werden können, wenn sie weniger Produktion haben. Damit solche Lösungen funktionieren und gerecht sind, braucht es einen partizipativen Ansatz. Nur technische Maßnahmen werden uns nicht helfen. Das Problem kann auch nicht eine Disziplin allein bearbeiten. Wir brauchen in der Wissenschaft und in der Praxis sektorenübergreifende Zusammenarbeit. Wir brauchen die Wildbach- und Lawinenverbauung, wir brauchen die Raumplanung, die Forstwirtschaft und die Landwirtschaft. Wir brauchen in den Gemeinden Ideen und Entwicklung, müssen gemeinsam Lösungen finden. Im regionalen und lokalen Kontext muss man Gesetze anpassen. Das sind alles Systeme, die ineinandergreifen. Wir arbeiten gerade am neuen Klimasachstandsbericht für Österreich, wo wir diese Aspekte auch mitdenken.

Zur Person: Margreth Keiler ist Professorin an der Universität Innsbruck und leitet das Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

Verwendete Quellen:

  • Bundesministerium Land- und Forstwirtschaft, Regionen und Wasserwirtschaft: Was hat Landbewirtschaftung mit dem Schutz unserer Gewässer zu tun?
  • APCC: AAR2: 2. Österreichischer Sachstandbericht zum Klimawandel

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