• Während der Nazizeit war Fritz Rößler ein hoher Funktionär der NSDAP.
  • Nach dem Krieg besorgte er sich eine neue Identität und zog als Dr. Franz Richter in den ersten Deutschen Bundestag ein.
  • Aufgrund der für Abgeordnete geltenden Immunität mussten die Ermittler Richter/Rößler eine Falle stellen, um ihn 1952 festnehmen zu können.

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Am Ende war eine List nötig, um den Schwindler Dr. Franz Richter zu überführen. Denn auch wenn die Ermittler längst wussten, dass der Mann eigentlich Fritz Rößler hieß und während der NS-Zeit ein hoher Funktionär der NSDAP gewesen war, konnten sie ihn nicht einfach so festnehmen. Denn Richter war im Februar 1952 gewähltes Mitglied des ersten Deutschen Bundestages und genoss Immunität.

Wie aber hatte es so weit kommen können? Rößler, geboren 1912 im sächsischen Gottleuba, war schon vor Adolf Hitlers Machtergreifung glühender Nationalsozialist gewesen und seit 1930 Mitglied der NSDAP. In der Partei machte er Karriere, wurde Gauhauptstellenleiter in Sachsen und arbeitete bei Kriegsende in der Reichspropagandaleitung.

Aus Fritz Rößler wurde Dr. Franz Richter

Ihm dürfte recht bald klar geworden sein, dass ein NS-Funktionär wie er im Nachkriegsdeutschland womöglich vor Gericht landen würde. Also verschwand Fritz Rößler - und kehrte zurück als Studienrat Dr. Franz Richter. Als Geburtsdatum gab dieser Richter den 6. Juni 1911 an, als Geburtsort das türkische Smyrna (das heutige Izmir), später wollte er in Prag Philologie studiert haben und schließlich von 1940 bis 1945 Soldat gewesen sein.

Diese Angaben hatten eines gemeinsam: Sie waren schwer bis kaum überprüfbar. Die Aufzeichnungen des Standesamtes Smyrna waren bereits 1922 verbrannt, auch die Akten der deutschen Verwaltung im Sudetenland wurden - wie so viele Dokumente des Dritten Reiches - in den Monaten vor Ende des Krieges vernichtet. Und die Personalakten der Wehrmacht? Gingen erst 1951 von den Alliierten an die Bundesrepublik über.

Diesen toten Winkel der Geschichte nutzte Rößler, der sich nun Richter nannte, mit allen Konsequenzen. Es war schließlich nicht ungewöhnlich, dass Menschen in den Wirren des Krieges ihre persönlichen Unterlagen verloren hatten. Also besorgte er sich 1946 ohne Schwierigkeiten eine neue Geburtsurkunde, einen Reisepass und einen Personalausweis. Unter seinem neuen Namen bestätigte er schließlich nicht nur den Tod seines angeblichen Wehrmachtskameraden Fritz Rößler, er heiratete auch seine Frau Ruth ein zweites Mal und adoptierte seine vier Kinder.

Als vermeintlich promovierter Studienrat fand er in Niedersachsen zügig Arbeit als Geschichtslehrer. Weil er jedoch nur den Namen, nicht aber seine politische Gesinnung gewechselt hatte, wurde er 1949 wieder entlassen. Er hatte sich vor Schülern mehrfach rechtsextremistisch und judenfeindlich geäußert. Die Entlassung dürfte ihn allerdings wenig bekümmert haben: Richter hatte ohnehin größere Ambitionen.

Für die Deutsche Konservative Partei - Deutsche Rechtspartei (DKP-DRP) kandidierte er für den ersten Deutschen Bundestag. Als vermeintlich Vertriebener aus dem Sudetenland konnte er sich dabei auf die Unterstützung des Verbandes Sudetendeutsche Landsmannschaft verlassen. Zugute kam ihm außerdem, dass es bei der Wahl noch keine Fünf-Prozent-Hürde gab. Und so kam es, dass Richter im August 1949 als einer von fünf Abgeordneten seiner Partei in den Bundestag gewählt wurde.

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Im Bundestag versteckte Richter seine rechtsextremen Ansichten nicht

Dort wechselte er binnen gut zwei Jahren mehrfach die Partei, zum Schluss war er Mitglied der Sozialistischen Reichspartei (SRP). Die verstand sich als direkter Nachfolger der NSDAP - und wurde als solcher Ende 1952 verboten. Zuvor hatte Richter aber freilich genug Gelegenheit gehabt, im Bundestag seine rechtsextremen und antisemitischen Parolen zu verschleudern.

Schon 1949 setzte er sich für eine Generalamnestie für alle NS-Verbrecher ein. Die Aufarbeitung der Hitler-Zeit kritisierte er in einer Rede: "Welches Leid hat die Entnazifizierung unserem Volk in seiner größten Not zusätzlich gebracht!" Zudem vertrat er lautstark die These, dass an den Naziverbrechen nur einige wenige Deutsche schuld gewesen seien. Man habe sich in den letzten Jahren "nicht entblödet, dem deutschen Volk groß aufgemachte Rechnungen zu präsentieren über Vergehen, die Einzelne unseres Volkes, wie das bei jedem Volk geschehen kann, begangen haben. Allerdings Einzelne!"

Im November 1951 schließlich zeigte Richter auch als Redner im Bundestag sein judenfeindliches Gesicht. "Genauso wie ich mich als Vertriebener jederzeit für meine Heimat einsetze, kann ich verstehen, dass die Araber es nicht wünschen, dass ihre Heimat für Dauer von den Juden gestohlen bleiben soll." Später bezichtigte er einen SPD-Parlamentarier der Kollaboration mit dem "Feind" Israel - wegen Beleidigung kassierte Richter dafür einen Ordnungsruf.

Was der Altnazi nicht wusste: Zu dieser Zeit waren die Behörden seinen Lügen längst auf der Spur. Sie hatten Hinweise aus der Heimat des damals 39-Jährigen bekommen: Dieser Richter sehe dem angeblich im Krieg gefallenen Fritz Rößler verblüffend ähnlich. Was eine Festnahme des Schwindlers kompliziert machte, war das Grundgesetz.

Dort steht in Artikel 46, Satz 1, dass ein Abgeordneter nicht wegen einer "Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Bundestage oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden" kann. Soll doch wegen einer potenziell strafbaren Handlung gegen einen Abgeordneten ermittelt werden, dann - Artikel 46, Satz 2 - muss der Bundestag erst zustimmen.

Richter also hatte es sich dank Artikel 46 gemütlich gemacht. Allerdings hatte er den Gesetzestext offenbar nicht komplett gelesen und wohl auch nicht mit der List seiner Verfolger gerechnet. Denn in dem Gesetz steht auch, dass ein Parlamentarier sehr wohl grundgesetzkonform festgenommen und vor Gericht gestellt werden kann - wenn er bei einer kriminellen Handlung erwischt wird.

Von Urkundenfälschung bis Amtsanmaßung

Gemeinsam mit dem eingeweihten Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers (CDU) stellten die Ermittler Richter eine Falle. Am 20. Februar 1952 legte ein Saaldiener dem Abgeordneten wie gewöhnlich die Anwesenheitsliste vor. In dem Moment, als der mit seinem falschen Namen "Dr. Richter" unterzeichnete, hatte er sich der Urkundenfälschung schuldig gemacht und wurde in der Wandelhalle des Bundestages festgenommen.

Unruhe und Heiterkeit herrschte wenig später laut Plenarprotokoll (PDF) im Saal, als die Festnahme vor den Abgeordneten verkündet wurde. Ein Zwischenruf des CSU-Mannes Richard Stücklen ist auch im Protokoll festgehalten: "Er ist ja doch ein Strolch gewesen." Einen Tag später legte Richter/Rößler sein Bundestagsmandat nieder.

Das juristische Nachspiel zog sich dann noch bis Anfang Mai 1952 hin. Einer Verurteilung wegen Beleidigung zweier niedersächsischer Minister folgte der große Prozess, in dem Richter, der nun wieder Rößler hieß, wegen Urkundenfälschung, dem Führen eines falschen akademischen Titels und der Amtsanmaßung als Studienrat zu 18 Monaten Haft verurteilt wurde.

Unangenehmer als die milde Strafe dürften für Rößler die vielen Wahrheiten gewesen sein, die in der Verhandlung öffentlich wurden: wie er, der sich später als ehemaliger Frontsoldat ausgab, sich im Krieg immer wieder vor dem Einsatz gedrückt hatte; wie er seine Frau zuerst als Verwandte ausgab, um sie später doch erneut zu heiraten; und natürlich, wie es ihm überhaupt gelingen konnte, so lange unter falscher Identität zu leben. "Gewiß [sic] hat diesem Glücksritter unter falschem Namen der Zufall geradezu verschwenderisch in die Hand gespielt", schrieb die "Süddeutsche Zeitung" am Tag nach dem Urteil.

Nach Verbüßen seiner Haftstrafe lebte der Nazi, der unter falschem Namen im Bundestag gesessen hatte, eine Weile in Kairo und trat bei rechtsextremistischen Veranstaltungen weltweit auf. Er starb 1987 im Alter von 75 Jahren in Österreich.

Verwendete Quellen:

  • Plenarprotokoll: Deutscher Bundestag — 194. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 20. Februar 1952
  • bundestag.de: Restitution
  • Sprache des deutschen Parlamentarismus

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