Schlager boomt, findet die ARD und feierte gestern Abend zusammen mit Florian Silbereisen folgerichtig den "Schlagerboom 2017". In der Dortmunder Westfalenhalle schunkelten über 10.000 Schlagerfans mit bekannten Branchenvertretern. Aber was steckt hinter dem angeblichen Boom?

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"Joana, geboren, um Liebe zu geben." Es bedarf nur dieser Worte und ein paar angedeuteter Tanzbewegungen und die Menschen in der Halle grölen mit.

An der Geschichte hinter dem Text kann es nicht liegen, denn die wenigsten dürften diese Joana persönlich kennen, von der Roland Kaiser da singt.

Trotzdem steht die ganze Halle Kopf. Spätestens hier kann man sich sicher sein: Die Leute, die gestern Abend zum "Schlagerboom 2017" in die Westfalenhalle nach Dortmund gekommen sind, lieben Schlager.

Das weiß auch der MDR, der die Gemeinschaftsproduktion von ARD, ORF und SRF, für die ARD betreut. Schließlich bewirbt der Sender die Show damit, eine "neue Lust auf Schlager" ausgemacht zu haben, ja einen regelrechten "Schlagerboom".

Nun ist so ein bisschen Sahneklopferei natürlich erlaubt, aber gibt es diesen Schlagerboom wirklich?

Schlager überall in den Charts

Ja, gibt es. Das sagt zumindest die GfK Entertainment, ein Tochterunternehmen der bekannteren Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), auf Anfrage.

Die GfK Entertainment misst verschiedene Verkaufszahlen und stellt dann zum Beispiel die wöchentlichen Offiziellen Deutschen Album-Charts zusammen.

Und bei ebenjenen Album-Charts sieht Hans Schmucker von der GfK Entertainment in der Tat einen Trend zum Schlager:

"Wir können bestätigen, dass es einen Schlagerboom gibt, der bereits seit einiger Zeit anhält: 2015 schafften es 60 Schlageralben in die Offiziellen Deutschen Charts, 2016 waren es 67 und 2017 bereits 64." Deutschland, einig Schlagerland?

Die über 10.000 Menschen jedenfalls scheinen bekommen zu haben, weswegen sie gestern in die Westfalenhalle gekommen sind. Schlager satt und mit Florian Silbereisen einen Moderator, der das macht, was man von ihm kennt und erwartet.

Silbereisen sorgt für Stimmung, Wohlfühlatmosphäre, aber auch dafür, dass das Ganze intellektuell nicht ausartet. Für all das, womit man Schlagermusik eben auch verbindet.

Schlagerboom: Was sagen die Zahlen?

Schlagerboom in Deutschland - das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Zur anderen Hälfte gehört, dass es wohl mindestens genauso viele Menschen gibt, die mit Andrea Berg und Co. wenig anfangen können.

In Zahlen ausgedrückt: 2015 standen laut GfK Entertainment insgesamt 1.033 Alben in den Offiziellen Deutschen Charts. Da klingen die 60 Schlager-Alben dann schon nicht mehr ganz so sehr nach Boom.

Dröselt man die Chart-Platzierungen wiederum nach Genre auf, sind 60 Alben aus einem einzigen Genre dann schon wieder mehr wert, findet Hans Schmucker von der GfK Entertainment:

"Insofern sind 60 Schlageralben schon sehr stark." Was man auf jeden Fall festhalten kann, ist die Tatsache, dass sich die Anzahl der Schlageralben in den Top 100 in den vergangenen Jahren fast verdoppelt hat. Von 38 in 2010 auf aktuell 64 in 2017.

Mit anderen Worten: Ob Schlagermusik nun gerade boomt oder nicht, ist ein Stück weit auch Auslegungssache. Ganz falsch ist die Behauptung aber sicher nicht.

Den Menschen in Dortmund dürften solche Zahlenspielereien egal gewesen sein. Wichtig ist auf'm Platz, heißt es beim Fußball, wichtig ist auf der Bühne, hieß es gestern Abend und diese Bühne war rappelvoll:

Thomas Anders, Bonnie Tyler, Vanessa Mai, Santiano, Voxxclub, Marianne Rosenberg, David Hasselhoff, Ross Antony, die Kelly Family, Andreas Gabalier, Jürgen Drews, um nur einige zu nennen.

Solch eine bunte Mischung führt natürlich zu der Frage, was Schlager im Jahr 2017 eigentlich ist.

Was ist überhaupt Schlager?

Die Antwort ist wahrscheinlich deshalb so schwierig, weil Schlager zum einen ein musikalisches Genre ist. Zum anderen ist Schlager aber auch schlicht eine Erfolgskategorie.

Schlager ist das, was gefällt, was eingeschlagen hat. Das war in der Geburtsstunde des Begriffs so und ist bis heute nicht anders.

Und so verwundert es dann auch nicht, dass gestern Abend "Tage wie diese" von den Toten Hosen gespielt wurde oder die Kelly Family ihren Hit "An Angel" darbot, den vor über zwanzig Jahren tausende Teenager sangen, die damals sicher jeden Schlagerverdacht weit von sich gewiesen hätten.

Wie schwer Schlager zu fassen ist, zeigt aber wohl am besten der Auftritt von Santiano, einer aktuell extrem erfolgreichen Band, die Shantys, irischen Folk und deutsche Volksmusik mixt und beim ESC-Vorentscheid ebenso dabei war wie beim Heavy-Metal-Festival in Wacken.

An sich schon ein breites Spektrum, besonders breit wurde es aber, als sie gestern Abend dann auch noch die Titelmelodie des Filmklassikers "Das Boot" in ihrem Song "Könnt ihr mich hören" verarbeiteten.

Nun könnte man angesichts dessen nicht völlig zu Unrecht sagen, dass man da gestern einfach alles unter Schlagermusik versammelt hat, was nicht bei drei im Zug nach Nirgendwo saß.

Aber vielfältig war Schlagermusik schon immer und ein Grundschema ließen fast alle Künstler beim "Schlagerboom 2017" trotzdem erkennen: zumeist deutschsprachige Musik, simple Rhythmen und noch simplere Texte. Einfach schlägt eben immer am besten ein.

Schlager auch nicht anders als andere Musik?

Trotzdem war vieles gestern Abend auch nicht anders als bei Veranstaltungen anderer Musikgenres: das Mitsingen- und tanzen, die etablieren Gesten oder schlicht die Bühnenshow.

Ein wenig sticht vielleicht die Fixierung auf Verkaufszahlen heraus: Platinstatus, dreimal die Westfalenhalle vollbekommen, soundso viele Wochen in den Charts – es konnte gestern gar nicht oft genug erwähnt werden, wie kommerziell erfolgreich der eine oder andere Künstler ist.

Und damit sind wir wieder am Anfang, beim Schlagerboom. Die Behauptung, dass Schlager boomt und damit auch der ausgerufene Grund für die gestrige Show, ist ebenso richtig wie falsch.

Richtig, weil man das, wenn man möchte, durchaus aus den Verkaufszahlen herauslesen kann und falsch, weil Schlager als Erfolgskategorie per se immer boomt.

Allerdings, und auch das bestätigt die GfK Entertainment, boomen derzeit auch Deutschrap oder Eletronic Dance Music.

Da ist natürlich die Frage spannend, ob der den "Schlagerboom 2017" für die ARD betreuende Sender MDR auch andere Musiktrends in einer ebenso prominenten Weise wie den Schlager würdigt.

Auf eine entsprechende Anfrage der Redaktion hat der MDR aber bislang nicht reagiert.

Stattdessen gibt es 2018 gleich die nächste Schlagerveranstaltung. Am 13. Januar kürt Florian Silbereisen diesmal die "Schlagerchampions".

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