Beim diesjährigen ESC erreichten die Musiker von Lord of the Lost nur den letzten Platz. Im Interview Gitarrist Pi über die Enttäuschung nach der Punktevergabe, mögliche Gründe für die Bewertung und anstehende Projekte der Band – etwa eine gemeinsame Tour mit Iron Maiden.

Ein Interview

Pi, Sie und Ihre Bandkollegen sind frisch aus der ESC-Bubble zurückgekehrt. Nehmen Sie uns doch einmal ein wenig dorthin mit …

(lacht). Sehen Sie es mir bitte nach, dass es gar nicht so einfach ist, die Menschen mit in diese Welt zu nehmen. Man muss zunächst sagen, dass der ESC nach dem "Superbowl" die zweitgrößte Fernsehshow und die größte Musikshow der Welt ist. Selbst ich muss mich manchmal immer wieder daran erinnern, und das spricht dafür, wie viel es hier noch zu verarbeiten gibt – vor allem mit Blick auf die positiven Erlebnisse. Und die gab es zu 99 Prozent.

Wäre da nicht dieser letzte kleine Prozentpunkt …

Natürlich ist so ein letzter Platz nicht zu 100 Prozent enttäuschungsfrei. Wir haben uns im Vorfeld intern tatsächlich angemaßt, zu sagen, nicht Letzter zu werden. Das konnten wir uns wirklich nicht vorstellen. Und wenn wir uns so umschauen, stellen wir fest, dass sich niemand vorstellen konnte, dass wir Letzter werden. Natürlich gibt es immer ein paar rechtsgesinnte Kritiker, aber die mochten uns schon vor dem ESC nicht und werden uns auch nie mögen. Das positive Feedback stimmt mich dennoch sehr happy, denn wir stellen fest, dass der Grundtenor absolutes Unverständnis für die Platzierung ist.

Also blicken Sie grundsätzlich positiv auf die vergangenen Wochen?

Es war eine wunderschöne Zeit, in der man mit ultimativer Offenheit und Freude begrüßt wurde. Die Menschen, die dort arbeiten, lieben das, was sie tun, und das merkt man. Natürlich muss man nicht davon sprechen, dass alle Künstler*innen, die dort teilnehmen, gut abschneiden wollen. Dennoch haben alle gleichermaßen verstanden, dass die Ellenbogenmethode hier nichts bringt, sondern dass es viel wichtiger ist, sich gegenseitig zu feiern und zu unterstützen.

Pi: "Am Ende geht es einfach nur noch um persönliche Geschmäcker"

Natürlich muss man aber auch nicht darüber diskutieren, ob die Künstler*innen gut oder nicht gut sind: Alle, die beim ESC teilnehmen, sind gut. Am Ende geht es einfach nur noch um persönliche Geschmäcker. Insofern haben wir wirklich nur positive Erinnerungen an diese Zeit, und das bleibt. Was aber ebenso bleibt, ist eine krasse Aufmerksamkeit auf uns. Diese liegt auf einem ganz neuen Level – eben auch wegen des Unverständnisses für das Ergebnis.

Ähnlich wie bei einer Fußball-WM, bei der regelmäßig 80 Millionen selbsternannte Fußballtrainer auf dem Sofa sitzen, gibt es ja auch zum Abschneiden der Deutschen beim ESC kritische Stimmen. Entertainer Thomas Gottschalk etwa sieht die vermeintliche Unbeliebtheit der Deutschen als Grund für das Ergebnis und fühlt sich "von Europa verarscht". Fühlen Sie sich verarscht?

Nicht wirklich. Ich glaube, man darf hier nicht vergessen, dass es nicht nur uns in diesem ganzen Kosmos gibt, sondern eben auch viele andere großartige Künstler*innen. Und weil vielleicht beim Televoting ganz viele Menschen für Käärijä abgestimmt haben, was ich übrigens total verstehen kann, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass diese Menschen Lord of the Lost nicht mögen. Sie haben einfach nur nicht für uns abgestimmt. Insofern fühle ich mich nicht verarscht, weil ich nicht glaube, dass wir automatisch in der Beliebtheit der Menschen ganz unten sind.

Ich finde es okay, wenn Leute andere Künstler*innen noch lieber mögen als uns. Woran das Ergebnis dann letztendlich liegen und worauf auch Thomas Gottschalk anspielen mag, kann ich nicht sagen. Vielleicht geht es aber tatsächlich auch um Ländersympathien, und möglicherweise herrscht für andere Länder doch etwas mehr Sympathie als für Deutschland. Zu sagen, Deutschland sei einfach unbeliebt, halte ich für einen sehr einfachen Weg. Hier kommt aber vermutlich die bereits angesprochene Sofatrainer-Mentalität zum Vorschein – die gibt es natürlich auch mit Blick auf uns, weil wir ja ohne Deutschlandflagge beim ESC eingelaufen sind …

Warum haben Sie und Ihre Bandkollegen sich dagegen entschieden?

Wir empfinden Nationalstolz als etwas sehr Schwieriges, vor allem für Menschen aus Deutschland. Wären wir mit der Flagge eingelaufen, würden manche Leute vermutlich darin rechtsgesinnte Symboliken erkennen wollen. Darüber hinaus identifiziere ich mich absolut nicht damit, dass ich Deutscher bin. Dafür, in Deutschland geboren worden zu sein, kann ich nichts. Niemand kann etwas dafür. Entweder wird man in einem privilegierten Land geboren oder nicht. Aber das ist keine Leistung – wie kann man darauf also stolz sein?

Es gibt ja Stimmen, die die Platzierung mit dieser Entscheidung in Verbindung bringen …

Hätte das Einlaufen mit der Deutschlandflagge für eine bessere Platzierung gesorgt, würde ich absolut infrage stellen, worum es bei diesem Wettbewerb eigentlich geht.

Song hat nichts "mit Blut oder Gewalt zu tun"

Im Gespräch mit unserer Redaktion hat sich ESC-Legende Ralph Siegel sehr positiv zu Lord of the Lost geäußert, aber auch nach Gründen für die Platzierung gesucht. Eine seiner Vermutungen ist, der Songtitel "Blood & Glitter" könne in Zeiten wie diesen falsche Erwartungen in den Köpfen der Menschen wecken …

Zunächst einmal würde ich die Gedanken von Ralph Siegel, der ein absoluter ESC-Veteran ist, für deutlich voller nehmen, als – sorry, Thomas – die von Thomas Gottschalk. Insofern würde ich nicht sagen, dass da nichts Wahres dran ist. Natürlich hat der Song absolut nichts mit Blut oder Gewalt zu tun. Dennoch gibt es viele typische Schlagzeilen-Leser*innen, weswegen ich durchaus den Gedanken zulassen würde, dass es häufig keine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema gibt.

Blickt man denn trotz der Enttäuschung über die Platzierung etwas wehmütig auf das Kapitel ESC zurück? Oder ist die Band in Gedanken schon längst bei zukünftigen Projekten?

Beides (lacht). Ich habe die letzten Wochen als eine auf jeder Ebene krasse Zeit empfunden. Vor allem, weil wir mit wirklich tollen Menschen zusammenarbeiten durften. Diese ganz besondere Stimmung habe ich selbst auf einem Szenetreffen noch nicht erlebt. Der konstante Zusammenhalt unter den Künstler*innen ist wirklich einzigartig und das, obwohl es beim ESC um etwas wirklich Großes geht. Einerseits blickt man also wehmütig zurück, andererseits blickt man auf das, was noch kommt, und es steht jede Menge an.

Worauf dürfen sich Lord-of-the-Lost-Fans freuen?

Die Festival-Saison steht in den Startlöchern, ebenso wie unsere Tour mit Iron Maiden sowie unsere eigenen Headliner-Termine. Außerdem ist die Ära "Blood & Glitter" noch lange nicht vorbei. Es wird eine Earbook-Edition sowie eine 2-CD-Version des Albums geben. Diese besteht aus dem Hauptalbum und einer zweiten Version namens „More Blood & More Glitter“ mit sechs neuen Songs. Wir legen also gefühlt noch ein halbes weiteres Album nach.

Klingt nach guten Zeiten für Band und Fans …

Absolut. Die ganze ESC-Aufmerksamkeit sorgt übrigens gerade dafür, dass wir aktuell in den Deutschen Albumcharts platziert sind. Aber nicht irgendwo, sondern auf Platz 3 hinter Helene Fischer und vor Nino de Angelo. Da wollen wir natürlich gerne bleiben.

Und dann wären da noch die Tourvorbereitungen …

Ganz genau, da steht einiges an. Die Konzertplanungen laufen aktuell bis Ende 2024. Dann feiert Lord of the Lost 15-jähriges Jubiläum, dementsprechend wird es eine Europa-Tour und diverse andere Shows geben. Vor allem im Ausland wird es einiges zu sehen geben.

Die zweite Tour mit Iron Maiden steht ebenfalls in den Startlöchern. Wie darf man sich das vorstellen? Dass zwei Bands, die sich bereits kennen, miteinander touren und gewissermaßen an die "guten, alten Zeiten" anknüpfen?

Jein (lacht). Wir hatten bei der ersten gemeinsamen Tour ein wirklich sehr familiäres Gefühl miteinander – und das, obwohl Iron Maiden eine der größten Bands der Welt ist. Und doch begegnet man sich auf einer Ebene, auf der man durchaus sagen kann, wie schön es ist, sich wiederzusehen und eine gute Zeit miteinander zu haben. Dabei darf man natürlich nicht vergessen, wie groß die Hallen und Arenen sein werden, in denen wir im Rahmen dieser Tour auftreten. Aber statt mit Druck und Nervosität gehen wir mit sehr viel Vorfreude in diese Zeit und freuen uns auch sehr darauf, endlich wieder live zu spielen und nicht halbplayback (lacht).

Haben die Musiker von Iron Maiden Eure ESC-Reise in den vergangenen Wochen verfolgt?

Ja. Steve Harris, der Bassist der Band, hatte uns im Vorfeld viel Erfolg gewünscht. Außerdem hat die Band am Abend des ESC-Finales in den sozialen Medien ein gemeinsames Band-Foto von uns gepostet. Dieser tolle Support der Band war eines der großen Highlights der vergangenen Tage (lacht).

Habt Ihr das Gefühl, dass die durch den ESC gewonnene Aufmerksamkeit sich auf Streamingzahlen und Ticketverkäufe auswirkt?

Absolut. Vor allem mit Blick auf die Social-Media-Zahlen und die Spotify-Zugriffe bemerken wir ein krasses Wachstum. Aktuell blicken wir auf 1,2 Millionen Spotify-Hörer*innen – das ist echt viel. Auch in Sachen Ticketverkäufe blicken wir auf tolle Zahlen. Viele Konzerte der Tour sind bereits über 50 Prozent ausverkauft.

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Letzte Frage: Wofür steht Lord of the Lost sowohl im Hier und Jetzt als auch in der Zukunft?

Wir stehen dafür, dass wir immer alles dafür geben, zu 100 Prozent wir zu sein. Das Stichwort hier lautet Authentizität. Wir stehen für komplette Freiheit in der Darstellung von uns. Es geht uns darum, Offenheit zu transportieren.

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