Der Erfolg von Conchita Wurst beim ESC 2014 ist nicht nur ein Triumph für Österreich, sondern auch für die europäische Demokratie. Es ist auch ein klarer Sieg für Toleranz und Menschenrechte beim Eurovision Song Contest.

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Seit Samstag sind auch Vegetarier Wurst-Fans. Mit "Rise like a Phoenix" hat Conchita Wurst nicht nur den ersten österreichischen ESC-Sieg seit Udo Jürgens 1966 eingefahren, sondern auch ein europaweites Zeichen für Toleranz gesetzt. Unter Tränen widmete die bärtige Glamour-Lady ihren Preis "allen, die an Freiheit und Frieden glauben".

Die Wahl des schönsten Liedes spielte beim diesjährigen Eurovision Song Contest eher eine untergeordnete Rolle. Viel mehr stellte die Veranstaltung in Kopenhagen eine politische und gesellschaftliche Bestandsaufnahme Europas dar. Homophobe Äußerungen gegen Conchita Wurst aus verschiedenen Staaten sorgten im Vorfeld ebenso für Zündstoff wie der Ukraine-Konflikt und die Frage, welcher Nation die Anrufer aus der Krim zugeordnet werden sollen. Mit Weißrussland hatte sich zudem Europas letzte bestehende Diktatur für den Wettbewerb qualifiziert – ein Land, in dem die Telefonabstimmung über den besten Song wohl die einzige wirklich demokratische Wahl sein dürfte.

Gleichberechtigung statt Russland-Parolen

Den Europäern waren all diese Diskussionen jedoch am Ende Wurst. Sie entschieden sich am Samstag mit überragender Mehrheit gegen Bevormundung und Diskriminierung und setzten ein Statement für Freiheit und Individualität. Conchita versammelte nicht nur die beim ESC traditionell ohnehin stark vertretene homosexuelle Gemeinde hinter sich. Mit Vollbart und Glitzerkleid wurde sie zur Vertreterin aller, die sich nicht ein- und unterordnen wollen.

Hier stand eben keine effekthaschende Drag-Queen auf der Bühne, sondern eine ernstzunehmende Künstlerin mit grandioser Stimme und glamourösem Auftreten. Nur, dass die Dame eben Bart trägt und im Stehen pinkeln kann. Conchitas Botschaft: Sei, wer du sein willst und tu', was du tun willst. Alles andere spielt keine Rolle. Aus genau diesem Grund hat Tom Neuwirth seinem Alter Ego einst auch den Nachnamen "Wurst" zugedacht.

Von der Trash-Königin zur Ikone

Als Außenseiterin war die Kunstfigur Conchita Wurst von den ESC-Fans anfangs belächelt worden. Schließlich war sie 2012 schon im Vorentscheid gescheitert und dieses Mal aufgrund einer direkten Nominierung des ORF ohne Konkurrenz im ESC-Halbfinale gelandet. Hier überraschte sie jedoch alle und zeigte, dass sie nicht nur medienwirksam auftreten, sondern auch wirklich singen kann. Mit ihrer überraschend beeindruckenden Stimme und ihrem divenhaften Gebaren machte sie aus einem eigentlich durchschnittlichen James-Bond-Song eine Gänsehautnummer und schaffte mühelos den Sprung ins Finale. Der Beginn vom Aufstieg des österreichischen Phönix aus der Asche des Trash-TVs zur neuen Identifikationsfigur.

Nach dem Final-Auftritt am Samstag tobte nicht nur die Halle in Kopenhagen, ganz Europa war im Bartfieber. Selbst erzkatholische Nationen wie Irland und Portugal übermittelten beim Telefonvoting Höchstwertungen. Konservative Politiker in Russland sahen in Conchitas Teilnahme beim ESC "eine eindeutige Propaganda für Homosexualität und geistliche Verderbnis".

Das russische Volk entschied jedoch anders und vergab immerhin fünf Punkte an Österreich. Ein Schlag ins Gesicht für Wladimir Putin und ein eindeutiges Zeichen der Bevölkerung, die sich nicht länger durch immer neue "Anti-Propaganda-Gesetze" unterdrücken lassen will. Für den russischen Präsidenten hatte Conchita nach ihrem Sieg ein paar sehr deutliche persönliche Worte parat: "Ich weiß nicht, ob er zuguckt. Aber falls ja, sage ich ganz klar: Wir sind unaufhaltbar."

In dieser Samstagnacht in einer alten Werfthalle in Kopenhagen hat nicht nur Österreich gewonnen, sondern ganz Europa. Die Menschen haben sich durch ihr Voting klar für Menschenrechte und Toleranz ausgesprochen - weil Demokratie uns eben nicht einfach "Wurst" sein darf.

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