Die Radstars Vingegaard und Evenepoel verletzen sich bei einem Sturz schwer. Die Meinungen über mögliche Ursachen gehen bei aktuellen und ehemaligen Radprofis auseinander. Gegenüber unserer Redaktion sagt der ehemalige deutsche Radrennfahrer Marcel Kittel, dass die Stürze vermeidbar gewesen wären.

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Die schweren Stürze der Top-Radprofis bei der Baskenland-Rundfahrt wären laut Marcel Kittel vermeidbar gewesen. Gegenüber unserer Redaktion moniert der Ex-Radprofi, dass die Abfahrt bei der Baskenland-Rundfahrt, bei der es zu den jüngsten Unfällen gekommen war, schon lange als gefährlich bekannt war. "Die einheimischen Rennfahrer haben dort schon vor Wurzeln unter der Asphaltdecke gewarnt, die für kleine Hubbel auf der Fahrbahn sorgen. Und genau da ist es schiefgegangen", erklärt er.

Umso schlimmer sei, dass der verunglückte Jonas Vingegaard an dieser Stelle gefallen sei, obwohl er diese schon vor einem halben Jahr als gefährlich eingestuft hatte. Damals habe er laut Kittel seine Bedenken gegenüber "Safer Cycling", also der Firma, die Banden zum Schutz herstellt, angegeben. Unternommen wurde aber offenbar nichts. "Das ist schwer nachzuvollziehen", sagt Kittel. Er weiß, wovon er redet: 14 Etappensiege hat er bei der Tour de France errungen, so viele wie kein anderer Deutscher.

"Wenn man immer weniger Spielraum hat, dann passieren irgendwann auch diese schweren Stürze"

Marcel Kittel

Ein weiterer Grund für die vermehrten Stürze im Radsport könnte der technologische Fortschritt sein. Zum einen seien die Fahrräder nochmal aerodynamischer geworden, außerdem seien die Scheibenbremsen dazugekommen, mit denen man später bremsen kann. Gleichzeitig ist laut Kittel auch das Niveau in allen Teams gestiegen. "Alle fahren in Millimeterabständen nebeneinander. Wenn man immer weniger Spielraum hat, dann passieren irgendwann auch diese schweren Stürze", sagt der 35-Jährige. Er wolle es nicht dramatischer aussehen lassen, als es ist, "aber die Art und Weise der Stürze ist vermeidbar".

Kittel hält trotzdem fest, dass das Bewusstsein für die Gefahren in den vergangenen Jahren gestiegen sei. Es sei aber ein hoher Preis gewesen, den man bis zu diesem Weg habe zahlen müssen. Der Schweizer Gino Mäder zum Beispiel ist im vergangenen Juni an den Folgen eines schweren Sturzes bei der Tour de Suisse gestorben.

Kittel erinnerte sich auch an Stürze aus seiner eigenen aktiven Zeit. "Ich habe mich auch gut abgeräumt", erzählt er. "Teilweise durch Selbstverschuldung. Man war zu schnell in der Kurve, es war glatt und man rutscht weg." Man könne sich das gar nicht richtig vorstellen, wenn man so ein Rennen von der Couch zu Hause aus verfolgt, sagte Kittel.

Geschke sieht die Ursache für die Stürze bei den Fahrern

Simon Geschke
Simon Geschke Anfang März 2024 im italienischen Volterra. Der 38-Jährige gewann bei der Tour de France 2015 eine Etappe. Auch er äußert sich zu Stürzen. © IMAGO/Fotoreporter Sirotti Stefano

Radprofi Simon Geschke sieht die Ursache für die Stürze bei den Fahrern. "Es war hundertprozentig die Schuld der Fahrer. Die waren einfach zu schnell. Die Straße war gut, es war trocken. Es war keine Kurve, die völlig überraschend kam", sagte der Teilnehmer des Rennens am Freitag der Deutschen Presse-Agentur. "Ich bin froh, dass keiner im Koma liegt", sagte der 38 Jahre alte Routinier, der nach dieser Saison aufhört.

Die Radstars Vingegaard und Remco Evenepoel und unter anderem der Australier Jay Vine erlitten bei einem Massensturz auf der vierten Etappe der Rundfahrt am Donnerstag schwere Knochenbrüche. Mögliche Straßenschäden und die zunehmend aggressivere Fahrweise im Feld gerieten in den Fokus bei der Suche nach Ursachen.

"Es ist diese Wer-bremst-verliert-Mentalität", sagte Geschke, der an der Unfallstelle vorbeigefahren war und dabei schon vermutete, dass die Favoriten betroffen waren. "Es ist super tragisch, aber es ist aus meiner Sicht die Nervosität der Fahrer. Jeder wollte in die ersten Zehn in dieser Abfahrt rein. Und wenn dann keiner bremst, dann passiert so etwas. Aber es ist schwer, einen Schuldigen auszumachen." Fahrer bräuchten sich laut Geschke nicht "über Streckenführung und schlechten Straßenbelag beschweren", meinte er. "Viele Stürze sind die Schuld der Fahrer."

Kittel schwärmt von "Gänsehaut, Adrenalin und Action"

Kittel erinnert daran, "dass der Radsport immer noch einfach eine gefährliche Sportart ist und auch immer bleiben wird". Er schwärmte aber auch von "der Gänsehaut, dem Adrenalin und der Action. Das ist einfach das, was den Sportlern gefällt. Manchmal legt man sich hin, verliert ein bisschen Haut und dann ist es gut."

Die schweren Verletzungen, wie man sie jetzt sieht, seien aber "schon wirklich hart". Für den Sport selber sei schade, dass es bei dem Sturz drei Favoriten für die Tour de France erwischt habe, die nun entweder ausfallen oder zumindest in ihrer Vorbereitung stark eingeschränkt werden.

Der zweimalige Tour-de-France-Sieger Vingegaard (27) aus Dänemark erlitt neben einem Schlüsselbeinbruch sowie mehreren Rippenbrüchen eine Lungenquetschung und einen Pneumothorax. Davon ist die Rede, wenn Luft in den Raum zwischen Lunge und Brustwand eindringt. Er befindet sich laut seines Visma-Teams in stabilem Zustand und hatte eine gute Nacht im Krankenhaus, wo er vorerst bleibt.

Der Belgier Evenepoel (24) zog sich neben einem Bruch des Schlüsselbeins eine Fraktur des Schulterblatts zu und muss operiert werden. Noch schlimmer erwischte es den Australier Jay Vine (28) mit einem Halswirbelbruch und zwei Brüchen der Brustwirbelsäule. Ob und in welcher Verfassung sie bei der Tour de France starten, ist unklar.

Verwendete Quellen

  • telefonisches Interview mit Marcel Kittel
  • Mit Material von dpa und SID
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